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Martina Schneider

© privat

Nachruf auf Martina Schneider: Neu und aufregend

Ihr Verhalten sei „einwandfrei, wenn auch durch starke Lebhaftigkeit gekennzeichnet“, so hieß es mal. Drum ging ihr Leben eigentlich erst nach der Arbeit los

Als sie 50 wurde, gab sie ein rauschendes Fest. Es schlug Mitternacht, sie kam als Peter Pan verkleidet die Treppe zum Tanzsaal herunter. Peter Pan, der nicht alt werden wollte und der seine verlorenen Jungs in ein Abenteuer nach dem nächsten führte. Ein bisschen davon steckte auch in ihr. Mit Martina war das Leben neu und aufregend.

In einem Sommergewitter legte Martina mit ihrem Leben los. Ihre Mutter war hier und da überfordert, weil das Mädchen nicht stillsitzen konnte. In der Wohnung hing sie am liebsten an einer kleinen Reckstange. Röcke mochte sie nicht, Hosen umso mehr. „Ihr Verhalten ist einwandfrei, wenn auch durch starke Lebhaftigkeit gekennzeichnet“, stand im ersten Zeugnis. „Martina ist sehr hilfsbereit und freundlich – und muss sich um eine ernsthaftere Arbeitshaltung bemühen“, stand in dem von der 8. Klasse. In Sport wurde sie immer als erste gewählt, nachmittags spielte sie Handball.

Ihr Vater war der ruhige Pol, der mit ihr spielte und sie besonders liebhatte. 14 war Martina, als es passierte. Ihre Mutter schickte sie zur großen Schwester nach Gießen. Dann kam der Anruf. „Vater ist tot“. Martina hatte nichts vom Krebs mitbekommen, nicht einmal verabschieden konnte sie sich von ihm. Zurück in Berlin zog sie sich auf den Dachboden zurück, ließ sich nicht trösten. Trauer machte sie mit sich alleine aus. Weinen sah man sie selten.

Drei, vier, fünf Verabredungen

Es gibt diese Kalender, die pro Tag nur eine Zeile haben. Hier trug Martina in winzigen Buchstaben ein, was sie gemacht hatte. Feiern gehen bis um 4, gleich am Morgen ein Frühstück mit Freundinnen, dann bei einem Umzug helfen. Drei, vier oder fünf Verabredungen am Tag waren normal. Martina küsste sich durch die Discos Berlins. Erst probierte sie es mit Jungs, dann mit Mädchen, bei denen blieb sie, das war schöner. Endete eine Liebschaft schaffte Martina es, diese in eine Freundschaft zu verwandeln, die noch Jahre anhalten konnte.

Realschulabschluss, Ausbildung zur Gymnastiklehrerin, der Beruf machte ihr Spaß, doch sie verdiente zu wenig. Deswegen wechselte diese flippige Frau in die Berliner Verwaltung, wurde Beamtin, stieg von der Regierungsassistentin zur Regierungsobersekretärin auf. Was sie dort genau machte? Irgendwas mit Personalservice, aber das war Martina gar nicht so wichtig. Hauptsache sie konnte pünktlich um 15.30 Uhr Schluss machen, denn dann ging ihr eigentlicher Tag los, den sie mannigfaltig zu füllen wusste. Mit Tanzen zum Beispiel: Salsa oder Latein, sogar auf Turniere nach Kopenhagen oder Barcelona fährt sie. Oder mit dem Motorroller an die Krumme Lanke, hintendrauf eine Freundin, die Arme um Martinas Taille gelegt, sich an sie gekuschelt. Doppelkopf-Freunde, Skifahr-Freunde, Tanz-Freunde, so viele Freunde und alle erzählen von Martinas Lachen. „Sie war wie eine Batterie, an der man sich aufladen konnte.“

Ein bisschen musste sie überredet werden. Ihre Freundin wollte ein Kind, Martina wollte das Leben genießen. Dann gab sie sich einen Ruck. Ein Vater war rasch gefunden und neun Monate später, 1999, kam Marisa auf die Welt. So bewegend war das, Martina musste weinen. Ein Jahr später trennten sich die beiden Mütter. Die Anforderungen eines Familienalltags waren nichts für Martina, das geforderte Maß an Selbstaufgabe zu hoch. Von nun an war einmal in der Woche Martina-Marisa-Tag mit Übernachtung. Die Tochter freute sich darauf, mit Martina war immer was los. Sie hörte aber auch zu, merkte sich jedes Detail. „Ihre Liebe gab mir mein Selbstvertrauen und Halt“, sagt Marisa heute.

Es war zu Silvester, 2012. Martina saß neben Antje am Strand in Thailand. Die beiden Frauen unterhielten sich, als ob sie sich schon ihr ganzes Leben kennen würden. Ein paar Tage später stand Martina plötzlich in Antjes Hotelzimmer, sah sie an, der Moment wurde zur Unendlichkeit, und dann küsste sie sie. Es war nicht die Hals-über-Kopf-Liebe. Antje lebte in einer anderen Stadt und schien das totale Gegenteil von Martina zu sein. Sie grübelte viel, sie war ein Arbeitstier, 60 Stunden die Woche und mehr. Sie besuchten einander am Wochenende, mieteten eine gemeinsame Wohnung auf einem Bauernhof in der Rhön, machten Urlaub.

Ein Reifen platzte

Namibia, sie fuhren mit dem Jeep durch die Steppe, ein Reifen platzte. Im Kofferraum fanden sie zwar Werkzeug, doch die Radmuttern waren total verrostet. Antje wollte sich dem Schicksal ergeben, doch Martina gab nicht auf, zerrte am Schraubenschlüssel, sprang auf dem Reifen herum – bis sich endlich etwas bewegte.

Antje verstand, dass sie Martina ihre Freiheit lassen musste, dass sie keinen Druck ausüben durfte. „Und Martina schenkte mir die schönsten Jahre meines Lebens, weil sie mir gezeigt hatte, dass es so viel Buntes gibt.“ Wo sie einmal heiraten würden, fragte Antje Martina. Auf dem Berg Wasserkuppe, dort steht eine ehemalige Radaranlage, darin die Außenstelle eines Standesamtes. Zum Fest tanzten die beiden einen langsamen Walzer. Als Antje an Krebs erkrankte, trug Martina sie durch 16 Chemotherapien. Da war sie die Starke. Wenn Antje schlief, weinte Martina in ihr Kuscheltier.

Endlich ein Zuhause für die beiden, die Wohnung war schon eingerichtet, als Martina nach Brandenburg fuhr. Mike, ein Bekannter vom Tanzen, hatte sie und zwei weitere Freundinnen eingeladen. Freitagabend ein bisschen schwofen, am Samstag sollte es mit einem Ultraleichtflugzeug in die Luft gehen. Ein Wochenende, so wie Martina es liebte. Erst flogen ihre Freundinnen mit Mike, dann war sie dran. Es gibt ein letztes Foto, da sitzen sie im Flugzeug, winken in die Kamera und lachen. Dann ging es in die Luft. Federleicht fühlt man sich hier oben, so frei und unbeschwert. Wie es zu dem Absturz kam, ist bis heute ungeklärt.

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