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Hans-Joachim Müller

© privat

Nachruf auf Hans-Joachim Müller: Raus aus dem Kleine-Leute-Leben

Im Sommer nach Kroatien, der Himmel ständig blau, das unaufhörliche Rauschen des Meeres

Ein Dialog zwischen Achim und Monika kurz vor der Abfahrt: „Denkst du an die Pässe?“ – „Ja.“

„Hast du die Badesachen?“ – „Mmh.“

„Und auch die Tasche mit dem Essen?“ – „Jahaa.“

Eine halbe Stunde könnte es so weiter gehen. Man muss an tausend Dinge denken. Die Sommerferien haben begonnen, es geht mit den Kindern wieder auf große Reise, drei Tage allein brauchen sie für die Anreise nach Žuljana, an die Südseite der kroatischen Halbinsel Pelješac. Drei Tage in ihrem Renault 16, nicht gerade eine Staatskarosse, in den all diese Dinge hineingestopft werden müssen, Vorräte, der Campingkocher, Badelatschen, feste Schuhe, Schlafsäcke. Doch damit nicht genug: Auf das Auto müssen noch ein Eskimo-Kajak und ein Faltboot. Das Kajak hat Achim - niemand nennt ihn Hans-Joachim - aus Glasfaserstäben und Polyester selbst gebaut, es ragt über Front- und Heckscheibe des Renaults hinaus. Aber endlich ist alles verschnürt und verpackt, jetzt geht es los. So, wie es jeden Sommer losgeht, seit 1965. Immer dieselbe Bucht, der Himmel ständig blau, unaufhörliches Rauschen des Meeres, immer dasselbe Dorf, immer dasselbe Haus. Bei Achim schien es nur zwei Zeiteinheiten zu geben: ewig lang oder außerordentlich kurz.

„Ach Pappi, wenn Du unseren Puppi siehst...“

Am Anfang steht die Kürze. Gleich nach Achims Geburt wird sein Vater in einer Kaserne in Frankfurt (Oder) stationiert. Es ist Krieg. Seine Frau schreibt ihm Briefe über das Gedeihen des Babys: „Ach Pappi, wenn Du unseren Puppi siehst, wirst Du staunen. Jeden Tag macht er etwas anderes und lacht niedlicher. Ich bin bald eifersüchtig, denn jeder, der ihn sieht, sagt: ‚Doch ganz der Pappi.“ Drei Monate später ist der Pappi tot, gestorben an einer Thrombose, seinen Puppi hat er ein einziges Mal gesehen, für nur einen Moment.

Nach dem Krieg heiratet Achims Mutter erneut, jetzt einen Witwer, der im Haus über ihr wohnt. Dieser Mann ist Mechaniker und nicht der Allerherzlichste, aber er weist dem Jungen einen Weg, zeigt ihm, wie man Röhrenradios repariert, sie schrauben und löten ganze Nachmittage. Es ist klar, Achim wird Elektrotechnik studieren. Seine Mutter freut es, aus ihrem Sohn wird etwas, ein Ingenieur, das klingt doch gut, raus aus dem Skalitzer-Straßen-Milieu, dem Kleine-Leute-Leben. Ihr Puppi soll schön lernen und seine Kraft nicht mit Schufterei vergeuden, so wie sie, die Tag für Tag in der Fabrik malocht.

Raus allerdings kommt er schon früher, wenn auch nur vom urbanen Getöse in die plätschernde Ruhe von Tegeler See und Havel. Achim fährt Kanu, eine Erinnerung an die Zeit kurz nach dem Tod des Vaters, als er und seine Mutter zwei Jahre bei Verwandten im Spreewald untergekommen sind. Er ist Jugendleiter des Vereins, jeden Freitag bis Sonntag und in den Ferien geht es raus zum Paddeln, einfach nur so, ohne jeden Wettkampfgedanken, Gewinnen oder Verlieren interessiert ihn kein bisschen.

Nicht ganz angemessen

Eines Tages steht ein kichernder Mädchenhühnerhaufen vor ihm, Kreuzberger Halbwüchsige, die sich ein bisschen frische Luft um ihre blassen Nasen wehen lassen sollen. Monika ist auch dabei. Achim passt auf die kleine Horde auf, zeigt ihnen die Boote. Er ist ja 16, sie erst 14. Einige Zeit darauf wird zum Frühlingsfest geladen, Achim tanzt mit Monika. Sie treffen sich von nun an auch außerhalb des Vereins. Regnet es, spazieren beide den schmalen Streifen unter der Hochbahn entlang, scheint die Sonne, paddeln sie.

Monika macht eine Schneiderlehre, so eine erscheint Achims Mutter nicht ganz angemessen für ihren Sohn. Eine Arzttochter wäre wesentlich akzeptabler. Aber sie lassen sich nicht beirren, 1963 stehen sie vor dem Standesbeamten, 1966 kommt Petra zur Welt und 1971 Thomas. Im selben Jahr ziehen sie in das Haus in Marienfelde, breites Verandafenster, Terrasse, ein Garten mit Rosen. Achim arbeitet bei der AEG, sein Gebiet ist die Bahntechnik, er arbeitet viel, nach Monikas Geschmack manchmal zu viel, in einem Jahr ist er 200 Tage unterwegs auf Dienstreisen, die Wochenenden inklusive.

Als er das Angebot erhält, mit der Familie nach Amsterdam zu gehen, reicht es. Sie zeigt ihm wortlos einen Vogel. Er sagt ab. Trotz aller Arbeit ist er nah bei seinen Kindern. Er windelt sie, er liest ihnen Geschichten vor, er bringt ihnen das Paddeln bei. Eine einfache Hausaufgabenfrage gibt es für ihn nicht. Immer muss es ein ausführlicher Vortrag werden. Oder die Sache mit den Schulheftern. Er greift regelmäßig einen am Rücken, schüttelt kräftig, und wehe, es fallen lose Blätter heraus.

Zudem ist er Elternsprecher in der Schule, sitzt in diesem Gremium und in jenem. „Es hätte eigentlich auch gereicht“, sagt sein Sohn, „wäre er nur mal ganz normal zum Elternabend gegangen.“

Dann, 1995, plötzlich der Ruhestand. AEG strukturiert um, bietet ihm eine Abfindung an. „Das war schön“, sagt Monika. Er unternimmt die fröhlichsten Paddeltouren mit seinen Enkeln. Er trifft sich mit seiner Doppelkopf-Männerrunde. Er spielt mit Monika Tischtennis in einem Verein, insgesamt 40 Jahre. Er erfüllt sich einen Traum mit ihr: Den ganzen Sommer über in Žuljana bleiben, in der Mittelmeerbucht, der Himmel ständig blau, unaufhörliches Rauschen des Meeres.

Jeden Abend trinkt Achim ein Bier und einen kleinen Schnaps. Er raucht andauernd, buchstäblich eine nach der anderen. Bis er es bleiben lässt. Zehn Jahre ist das her.

Am Ende steht wieder die Kürze. Er geht zum Arzt. Die Diagnose: Kehlkopf- und Lungenkrebs. Er hat nichts davon bemerkt. Er kommt ins Krankenhaus. Es geht ihm rapide schlechter.

Die Krankenschwester fragt seinen Sohn: „Ihr Vater ist sehr unruhig. War er auch schon zu Hause so?“ Sein Sohn antwortet: „Er ist letzte Woche noch mit dem Auto ins Restaurant gefahren.“ Die Ärzte können nichts mehr für ihn tun, er kommt ins Hospiz. Alle sind jetzt um ihn. Der Frühling bricht an, sie schieben sein Bett ein Stück auf die Terrasse, essen, trinken, reden, lachen, weinen, sie vergessen die Zeit.

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