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Eveline Dalg

© privat

Nachruf auf Eveline Dalg: Mehr aber auch nicht

Im ersten Laden verkauften sie nur Seifen und Parfümerien, im zweiten hieß es: „Dalg an der Ecke handelt mit jedem Drecke“

Es waren so schöne Zeiten. Sie trug eine große Propellerschleife im dicken Haar ihres schwarzen Bubikopfs. Fuhr wild Rollschuh, bewegte ihr Fahrrad freihändig mit den Füßen auf dem Lenker. In der Sommerfrische auf Rügen meckerte sie mit dem „Böckchen Bäh“ um die Wette, balgte sich mit dem kleinen Bruder und ihrem Neffen, träumte lesend auf der Wiese von ihrer Zukunft als Sängerin oder Schauspielerin. Daheim in Berlin war die Wohnung voller Vögel, der Hund „Dupti“ hielt Wache. Dann kam der Krieg. Im Oktober 1944 fiel der Vater Arthur. Die Mutter Käthe versank in Trauer, wollte nicht mehr aus ihrem Bett heraus. Eveline stand um Wasser an der Pumpe an, beschaffte Lebensmittel und hielt die Mutter von hinten fest umschlungen, als sie sich mit dem Ruf „Arthur, ich komme“ aus dem Fenster stürzen wollte.

In der Nachbarschaft wohnte die Gräfin von Maltzan, in deren tierärztlicher Praxis Eveline assistieren durfte. Die Gräfin verhalf vielen politisch Verfolgten zur Flucht, bot Juden in den weitläufigen Kellern Unterschlupf. Eveline wurde zur Mitwisserin, erledigte Botengänge, half mit, einen jungen Offizier aus dem Stauffenberg-Kreis in der elterlichen Wohnung zu verstecken. Und sie befreundete sich mit Tamara und Ludmilla, den beiden nach Deutschland verschleppten Mädchen aus Minsk. Als die Russen in das zerbombte Berlin einmarschierten, retteten die beiden sie vor Schlimmerem.

„Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami“

Es war nicht viel geblieben von den Kinderträumen. Eveline begann eine Ausbildung als Stenotypistin und fand eine Anstellung in der Versicherungsfirma „Dietrich & Zimmermann“, wo sie 40 Jahre halbtags als Sekretärin und Sachbearbeiterin arbeitete. Ihre Oma kannte ihre wahren Sehnsüchte und bezahlte ihr Klavierstunden. Eveline dankte es, indem sie zur Freude der Nachbarschaft bei geöffnetem Fenster beliebte Filmmelodien spielte: „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami“. Was auf ihren Willi auch zutraf, der gut aussah, aber ein wenig schüchtern war. Zum Tanzen schickte er seinen Bruder vor, doch er begleitete sie auf dem Nachhauseweg. Willi brachte sie zum Lachen, er konnte jeden zum Lachen bringen.

Zur Verlobung schenkte er ihr eine kleine Schachtel Pralinen. Sie mussten sparen, aber vier Pralinen? Da hatte sie sich etwas mehr erhofft. Dann fragte er auch noch, ob sie ihm nicht eine Praline anbieten wolle. Zögerlich öffnete sie die Schachtel – und fand eine elegante Armbanduhr darin, die ein kleines Vermögen gekostet haben musste.

Es waren karge Zeiten. Neun Quadratmeter Souterrain, Klo über den Hof, da wohnten sie anfangs, da feierten sie viele Feste, hinter ihrem ersten Laden „Seifen und Parfümerien“ in der Albestraße. Eveline rieb sich auf zwischen dem Büro und dem Laden, und dann kam auch noch ein Kind, das nicht geplant war, und ihr mehr Gefühl abverlangte, als sie zu geben vermochte. „Dein Vater hat gesagt, ich soll mehr mütterlich sein“, empörte sie sich vor ihrer Tochter, nicht fühlend, wie sehr diese sich nach Nähe sehnte.

Prominenz im „Poeten-Kiez“

Der Laden, den Eveline und Willi 1972 übernahmen und erweiterten, machte noch mehr Arbeit, denn er bot alles: Tabak- und Schreibwaren, Spielzeug, Süßwaren, Zeitungen und etliche Haushaltsartikel. Oder, wie es Willi knapp zusammenfasste: „Dalg an der Ecke handelt mit jedem Drecke“. In dem Friedenauer Eckladen traf sich die Welt. Es residierte ja viel Prominenz im „Poeten-Kiez“, Günther Grass, Uwe Johnson, die Sekretärin von Erich Kästner, die Dichterin Margot Apostol, eine Nachfahrin Jean Pauls, die Willi auf lyrische Weise huldigte: „Allen wünscht er: Juten Morjen, / ville kommen ooch mit Sorjen, / und er hat dann Trost und Worte / für diese und für jene Sorte.“

Auch wenn Eveline sich gelegentlich über ihn ärgerte, Willi war der einzige Mann in ihrem Leben. Sie ließ sich gern anhimmelnde Blicke von anderen gefallen, aber mehr auch nicht. Wirkliche Bewunderung empfand sie für Harry Belafonte, der so sanfte Lieder aus fernen Welten sang. Das einzig Exotische an Willi waren seine „Orienta“, filterlose Zigaretten, die er Kette rauchte, was die Kehle so austrocknete, dass er mehr Bier trank, als ihm guttat.

Gestritten haben die beiden nur über Politik, sie war christlich links, er christlich konservativ. Ansonsten herrschte abends vor dem Fernsehapparat das große Schweigen. Einmal im Jahr ging es auf mehrwöchige Urlaubsreise nach Österreich, in die Berge. Da wurden Erinnerungen wach an die Sommerfrischen der Kindheit, und das Leben war wieder ein wenig leichter, unbeschwerter, und die Liebe der beiden war wieder ein wenig fühlbarer und körperlicher. Aber fürs dauerhafte Glück reichte es nicht. Willi starb schon 1985.

„Du,“, dichtete Eveline in einem der zwei Gedichte, die von ihr erhalten geblieben sind, „ich möchte, / dass alles Ungesagte / sich zwischen uns erhelle / in stummer Zwiesprache / und wir uns / unter Tränen verstehend zulächeln. / Es bleibt das Sehnen / und das Hoffen, / dass neben mir / nur Deine Gestalt entschwand.“

Eveline übernahm das Geschäft, führte es sieben Jahre und ging dann in Rente. Zum Abschied schenkte ihr „der Herr Grass“ seinen „Werkstattbericht“ mit Widmung, ein sehr dicker Wälzer, der im Regal seinen Platz neben der Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck fand. Sie schrieb auch viel selbst, scharf formulierte Briefe im Namen des Tierschutzes an Politiker und Verbände. Denn es war höchste Zeit, fand sie, dass der Umwelt- und Tierschutz endlich im Grundgesetz verankert wird. Und sie erinnerte sich ihrer Schauspieltalente, als ihr Enkel Vincent geboren wurde. Den „Erlkönig“ rezitierte sie als Gute-Nacht-Geschichte so lebhaft, dass der Enkel partout keinen Schlaf finden konnte und weinend wieder zu ihr ins Wohnzimmer lief. Im Altersheim fremdelte sie anfangs etwas „Die alten Leutchen hier! Was mach’ ich denn da?“ Singen, war die einfache Antwort, und das tat sie dann auch zur Freude aller. Angst vor dem Tod hatte sie nicht. Woher auch, dem war sie als Kind schon viel zu oft begegnet.

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