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Menschliches Erbgut: Wir sind nicht nur Gene

Vor zehn Jahren wurde das menschliche Erbgut entziffert. Heute zeigt sich: Die Revolution hat erst begonnen.

Gene sind ein bisschen aus der Mode gekommen. „Weshalb Ihre DNS nicht Ihr Schicksal ist“, verriet das amerikanische „Time“-Magazin seinen Lesern Anfang des Jahres. „Mach Platz, Mendel. Watson und Crick? Ihre DNS-Version ist die von alten Männern“, lautete der entsprechende „Newsweek“-Titel. Der „Spiegel“ zog nach: „Der Sieg über die Gene“, war das Bild einer nackten Blondine überschrieben, die einer wässrigen Doppelhelix entsteigt. Unterzeile: „Klüger, gesünder, glücklicher: Wie wir unser Erbgut überlisten können.“

Das ist kein von Journalisten erfundener Trend. Wissenschaftliche Journale sind voll von Berichten darüber, wie die Umwelt die Gene prägt und wie sich ihr Einfluss sogar weitervererben könne. Epigenetik heißt dieses angesagte Fachgebiet. Es hat den Anschein, als wendeten sich viele Forscher von den Genen ab und der Umwelt zu. Die Welle schwappt zurück.

Wie anders hatte das vor zehn Jahren ausgesehen. Damals, im Juni 2000, feierten die Entzifferer des menschlichen Genoms ihren größten Triumph. Craig Venter von der Firma Celera und Francis Collins vom öffentlich geförderten Genomprojekt zelebrierten zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und dem britischen Premier Tony Blair in einer gemeinsamen transatlantischen Pressekonferenz die Enthüllung eines Rohentwurfs der menschlichen Erbgutsequenz. Die Wissenschaftler würden nun die Sprache lernen, in der Gott Leben schuf, sagte Clinton. Blair prophezeite eine medizinische Revolution, die die Entdeckung der Antibiotika im 20. Jahrhundert bei Weitem übertreffen würde.

Francis Collins wurde noch konkreter. Er sagte für das Jahr 2010 die Ankunft einer genombasierten Medizin voraus. Sein Fallbeispiel: Ein junger Mann lässt beim Arzt sein Erbgut scannen und bekommt daraufhin ein für seine Gene maßgeschneidertes Medikament verordnet. Auf Erbgutbasis entwickelte „Designermedikamente“ für die Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, psychische Krankheiten und viele andere Störungen seien 2010 auf dem Markt, glaubte Collins damals.

Wissenschaft, Biotechnikindustrie und Kapitalgeber waren euphorisch. Gepäppelt mit Milliarden Dollar von Investoren versprachen Firmen wie Celera, Myriad Genetics und Incyte, das Wissen um Erbgutinformation zur Grundlage potenter neuartiger Medikamente zu machen. Die Börsenkurse schossen in die Höhe, ein Ende schien nicht absehbar.

Aber die Genomblase platzte nach ein paar Jahren. Der Spaziergang zu den biologischen Ursprüngen des Menschen erwies sich zunehmend als Strapaze, die sanfte Landschaft des Genoms entpuppte sich als zerklüftet und voller Abgründe.

Und dann war da die Inflation der Daten. Ließen sich Firmen wie Celera zunächst ihre kostbaren Erbgutsequenzen regelrecht mit Gold aufwiegen, wurden diese Informationen immer wertloser, je höher der Strom der genetischen Information anschwoll. Bis die Wissenschaftler fast in ihm ertranken.

Heute muss Collins ernüchtert feststellen, dass das entzifferte Erbgut die Medizin nur in bescheidenem Umfang verändert hat. „Es ist sicher zutreffend, dass das Humane Genomprojekt die Gesundheitsversorgung der meisten Menschen noch nicht direkt beeinflusst hat“, kommentiert er die Ereignisse der vergangenen zehn Jahre. Die „personalisierte Heilkunde“ ist allenfalls in Umrissen zu erkennen.

Das liegt vor allem daran, dass die Komplexität des Genoms und seines Wechselspiels mit der Umwelt unterschätzt wurde. Die drei Milliarden biochemischen Buchstaben des menschlichen Erbguts stellen keinen simplen Bauplan dar. Und der Körper ist keine Maschine aus Einzelteilen, für die die 20 000 menschlichen Gene die Blaupause geliefert haben.

Dieser Fehlschluss hat wahrscheinlich etwas mit dem Biologieunterricht zu tun. Hat man dort doch gelernt, dass Gregor Mendel Erbsen mit roten und Erbsen mit weißen Blüten miteinander kreuzte. Das Gen für „rot“ tritt also gegen die Erbanlage für „weiß“ an. Am Ende gewinnt, wer dominant ist.

Nach demselben Muster waren auch all die „Gene für“ gestrickt, über deren Entdeckung die Medien in den letzten Jahren berichteten. „Das“ Sprachgen, „das“ Gen für Schüchternheit, für Gedächtnis, für Schizophrenie, für Krebs und fürs Schwulsein.

Jedes Gen steht für ein Attribut, einen Makel, ein Stück Mensch: So entstand der Eindruck, als enthielten die Erbanlagen die Essenz des Homo sapiens, ein Gemisch aller wesentlichen Eigenschaften.

Auch wenn die Wirklichkeit meist komplizierter ist: Mendels Gene existieren. Es gibt Erbanlagen, die für genau ein Merkmal eines Menschen „zuständig“ sind. Aber selbst bei der Augenfarbe ist es schon komplizierter als im einfachen Mendel-Schema. Bedeutsam ist das Schema vor allem für seltene Ein-Gen-Krankheiten. Ein winziger molekularer Webfehler in einem Gen auf Chromosom 7 ist die Ursache der Mukoviszidose, einer schweren angeborenen Erkrankung der Atemwege und des Verdauungstrakts. Und ein biochemisches Stottern in einem Gen auf Chromosom 4 verursacht das Nervenleiden Huntington.

Im Normalfall sind an einem Merkmal – Körpergröße, Neigung zu Herzleiden, Intelligenz – jedoch viele Gene beteiligt. Und, um es noch verwickelter zu machen: Ein Gen ist oft an vielen Merkmalen beteiligt. Die Kunst besteht darin, die verknäuelten Fäden zu entwirren, die vom Gen zum Merkmal und zurück führen. Da verwundert es nicht, dass die Wissenschaftler sich in den vergangenen Jahren die Zähne daran ausgebissen haben, genetische Ursachen oft vorkommender Krankheiten wie Diabetes oder Krebs zu finden. Je häufiger ein Leiden, desto schwieriger ist es, seine Wurzeln im Erbgut ausfindig zu machen, lautet die Faustregel.

Die Formel „ein Gen enthält die Bauanleitung für ein und nur ein Protein“ kennt inzwischen viele Ausnahmen. Denn nach manchen genetischen Anweisungen lassen sich verschiedene Eiweiße (Proteine) zusammenbauen. Dann wiederum gibt es DNS, die nicht für Proteine, sondern für Ribonukleinsäure kodiert, gewissermaßen eine nahe Verwandte der DNS.

Und schließlich hat man erste Ausflüge auf den dunklen Kontinent der Genetik unternommen. Das sind jene 98,5 Prozent der menschlichen Erbinformation, die keine Gene enthalten. Früher als „Müll-DNS“ ignoriert, wird immer deutlicher, dass auch der nichtkodierende Teil der Erbinformation wichtig ist. Die eindimensionale Welt der Gene ist mehrdimensional geworden.

Das Erbgut ist ein komplexes Gefüge, das im permanenten Austausch mit dem Mikrokosmos der Zelle steht und in ständigem Wandel begriffen ist. Weder gibt es „das“ Genom des Menschen, noch streng genommen „das“ Genom eines Einzelnen. Denn jede der Billionen Zellen eines Individuums besitzt schließlich ein komplettes Erbgut, sogar den doppelten Satz. Und überall in unseren Zellkernen wird fleißig vor sich hinmutiert.

Statt endgültiger Gewissheiten liefert die Genomforschung Wahrscheinlichkeiten und Risikoangaben. Und selbst die sind häufig von fragwürdigem Wert, der mitunter nicht über den Wahrheitsgehalt von Horoskopen hinausgeht.

Der Harvard-Psychologe und Buchautor Steven Pinker unterzog sich vor zwei Jahren einem kommerziell erhältlichen Gencheck. Der Test fand Risiken für dies und jenes – und genetische Hinweise darauf, dass Pinker zu roten Haaren veranlagt sei und zur Verglatzung neige. Weit gefehlt – die dunkle, mittlerweile angegraute Haarpracht des Wissenschaftlers ist legendär.

Der Autor leitet die Wissenschaftsredaktion des Tagesspiegels.

© Kai-Uwe Heinrich

Seit Pinkers Selbstversuch sind die Erbgutanalysen umfassender, schneller und billiger geworden. Dieser technische Fortschritt ist bis jetzt der größte direkte Nutzen des Genomprojekts. In wenigen Jahren wird jedermann seine Erbinformation für ein paar hundert Euro entziffern lassen können. Schon fordern deutsche Wissenschaftsakademien, private Gentests nicht zuzulassen. Aber warum verbieten? Es sollte jedem freigestellt sein, mit seinen Erbgutinformationen zu machen, was er will. Die Genomsequenz eines Menschen ist seine Privatsache. Er allein sollte entscheiden dürfen, was er mit dieser Information anstellen will.

Die Frage, ob ein einzelnes Gen den Wesenskern eines Menschen, seinen Charakter und seine Begabungen enthält, kann getrost verneint werden. „Man kann die Börse nicht verstehen, indem man einen einzelnen Händler studiert, oder einen Film, indem man eine DVD unter das Mikroskop legt“, lautet Pinkers Fazit. „Der Trugschluss besteht nicht etwa in dem Glauben, dass das gesamte Genom wichtig ist, sondern in der Annahme, dass ein einzelnes Gen so bedeutsam ist, dass wir uns darum kümmern müssten.“

Trotzdem führt kein Weg daran vorbei, dass das Genom ein fundamentaler Bestandteil unserer Person ist. Es macht uns zu Menschen, die lern- und kulturfähig sind. Auch wenn diese Tatsache im allgemeinen Bewusstsein nicht so recht verankert ist, wie die heftige Debatte um die Vererbbarkeit von Intelligenz beweist, die sich an Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ entzündete.

Da Intelligenz eine Leistung des Gehirns darstellt und das Gehirn seinerseits das Produkt eines genetischen „Kochrezepts“ ist, kann man annehmen, dass zwischen menschlichem Denkvermögen und menschlichen Erbanlagen ein enger Zusammenhang besteht. Intelligenz ohne Gene? Das wird schwierig.

Es ist unbekannt, wie groß der Anteil der Gene an der Intelligenz ganz allgemein ist. Recht gut erforscht ist dagegen, welche Rolle sie für Intelligenzunterschiede spielen. Drei Faktoren sind bei diesen Unterschieden von Mensch zu Mensch entscheidend: Gene, Einflüsse aus der Umwelt und, in nicht zu unterschätzendem Maße, der Zufall. Also etwa individuelle Wachstumsprozesse des Gehirns oder prägende Lebensereignisse.

Eigentlich könnte man die Tatsache, dass Gene und Geist zusammengehen, mit Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Doch manch einer stört sich an der Tatsache, dass auch schnöde Biochemie hinter den Höhenflügen des Denkens steckt. Kultur und Biologie haben wenig gemein, so die weitverbreitete Vorstellung. Mehr noch, sie seien sogar Gegenspieler. Die Deutschen würden sich in der Tradition des Bildungsromans sehen, argumentiert Frank Schirrmacher, Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen“. Diese Weltsicht bedeute: „Jeder kann alles sein.“

Jeder kann alles sein, diese Idee ist tatsächlich kaum mit der Natur des Menschen vereinbar. Wenn sie auch nah an das heranreicht, was manche Verfechter der Epigenetik behaupten. Frei nach dem Motto: Jeder ist seiner Gene Schmied.

Näher an der Wirklichkeit war der Bildungsbürger und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe. In seinen „Urworten“ beschäftigt Goethe sich mit dem menschlichen Charakter, den er „Dämon" nennt. Dieser sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. In der geprägten Form des Charakters zeigt sich, so kann man heutzutage hinzufügen, auch der Abdruck der Gene. Sie sind ein Teil von uns und nicht etwas, was wir abstreifen könnten oder müssten.

Gene, Umwelt, Zufall – es ist dieses Trio, das die Musik macht, wenn es um den Menschen geht. Der Versuch, die Rolle der Erbanlagen in diesem Zusammenspiel zu schmälern, mag verständlich sein. Vielleicht steht die Idee dahinter, Macht über das eigene Schicksal zurückzugewinnen, wo bislang die vermeintlich unbeeinflussbaren Gene im Vordergrund standen. Oder es ist Enttäuschung darüber, dass die Erbgutentzifferung nicht die einfachen Antworten gebracht hat, auf die viele gehofft haben. Aber je mehr wir über unsere biologischen Wurzeln erfahren, umso interessanter wird die Musik. Der Konflikt von Natur und Umwelt existiert nicht, auch wenn das menschliche Gehirn darauf trainiert ist, in solchen Gegensätzen zu denken.

Und dass bald jeder die Buchstaben seines genetischen Codes erfahren kann: In diesem Erkenntnisgewinn verbirgt sich ein Stück neu gewonnener Freiheit des Menschen. Der Freiheit zu wissen. Auch wenn es noch lange dauern wird, bis man den Sinn aus der Sequenz herauslesen kann.

„Die Revolution hat erst begonnen“, sagt der Genomforscher Craig Venter. Diesmal könnte er recht behalten.

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