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In Berlin fordern Demonstranten am Wochenende einen "Wandel des Systems" in Berlin. Mit in der Kritik: Bundespräsident Christian Wulff.

© dapd

Kontrapunkt: Willkommen in der Hypermoralisierungsdebattenspirale

Die Deutschen sind von Misstrauen durchdrungen. Sie verdächtigen alle Politiker der Korruption, beschimpfen einander als Rassisten oder fordern komplette Transparenz. Malte Lehming über deutsche Besonderheiten.

Eine beschädigte Nation braucht in regelmäßigen Abständen moralische Diskurse. Weil dieser Nation kein Wert selbstverständlich ist, muss sie über zum Teil heftig geführte Normendebatten sich immer wieder neu ein Fundament geben. Der Inhalt dieser Normendebatten kann freilich wechseln. Was früher die Geschichte war – Historikerstreit, Holocaust-Mahnmal, Daniel Jonah Goldhagen -, wurde zunächst abgelöst von der Bioethik – embryonale Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe -, es folgten Thilo Sarrazin, Karl-Theodor zu Guttenberg und Christian Wulff.

Dabei stehen die Anlässe nur selten in einem nachvollziehbaren Verhältnis zum Pegelstand der öffentlichen Erregung. Diese Erregung darf daher als Symptom gelten für den kompensatorischen, weil erhofft identitätsstiftenden Charakter der Auseinandersetzung. Auf seltsam anonyme Weise misstrauen die Deutschen einander. Sie misstrauen nicht diesem und jenem konkreten Deutschen, sondern allen und keinen. Erst in der jeweiligen Debatte kommen sie zu sich und finden einander. Es entstehen Wertebündnisse, die allerdings nur auf Zeit geschmiedet werden. Deshalb die Notwendigkeit der steten Wiederholung. Willkommen in der Hypermoralisierungsdebattenspirale!

Eher assoziativ und ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll auf ein paar Besonderheiten aus jüngster Zeit hingewiesen werden. Da ist zum einen der unumstößliche Verdacht der permanenten Korruption. Er bildet in vielen Affären gewissermaßen die Recherchehypothese. Deutsche Politiker werden regelmäßig bestochen und erwidern das durch Entscheidungen zugunsten der Bestechenden: Dieses Vorurteil wird gehegt und gepflegt und dermaßen oft transportiert, dass es nicht überrascht, warum niemand mehr nach einem Grund dafür fragt. Oder nach einem Beispiel. Überlegen Sie selbst (und ganz spontan): An welchen Fall von Korruption in der deutschen Politik – sagen wir: in den vergangenen zwanzig Jahren – können Sie sich erinnern?

Da ist zum anderen die Leugnung jeglicher Differenz. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau werden auf Tradition und Erziehung reduziert, der Transvestit, als Ausdruck der sich angeblich fortlaufend wandelnden Identitätsüberlappungen, genießt hohe Aufmerksamkeit. Dasselbe Muster findet sich in der Integrationsdebatte. Eigentlich sind Ausländer und Biodeutsche ganz gleich, wer die Unterschiede betont (wie Sarrazin), gilt leicht als Rassist. Dabei wird eine solche Entgegnung durch die Wirklichkeit und den Augenschein schnell widerlegt. Sie ist auch unsinnig. Wenn alle Menschen gleich sind, braucht man keine Toleranz. Die Akzeptanz des Anderen, des Ungleichen, kann nur unter der Prämisse der Differenz entstehen. Wer diese leugnet, beschädigt den Wert der Toleranz.

Und da ist drittens die Tyrannei der Transparenz, das Nichtertragenkönnen von Verborgenem. In seinen „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ (1908) hat sich Georg Simmel auch mit dem zivilisatorischen Nutzen von Geheimnissen beschäftigt. „Das Geheimnis“, schreibt er, „das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten, ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können.“

Simmel ahnte womöglich bereits, dass in einer Kultur des öffentlichen Seelenstriptease – von Twitter über Facebook und den Piraten bis zu Castingshows, „Big Brother“ und dem „Dschungelcamp“ – jeder Bereich des Lebens vom Diktat der Transparenz bedroht wird. „Von den kleinsten bis in die größten Verhältnisse hinein zeigt sich diese Eifersucht auf das Wissen um eine andern verborgene Tatsache.“

Wie gefährlich das Ideal einer geheimnislosen Gesellschaft ist, hat zuletzt Byung-Chul Han in einem bemerkenswert klugen Artikel in der „Zeit“ gezeigt („Transparent ist nur das Tote“). Totale Transparenz führe womöglich zu einer Art „Burn-Out der Seele“, schreibt er. Und in Bezug auf den Fernsehauftritt von Bundespräsident Christian Wulff und dessen Beteuerung, er wolle Vertrauen schaffen durch Transparenz: „Dieses Motto verbirgt in sich einen Widerspruch. Vertrauen ist nur möglich in einem Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen.

Vertrauen heißt, trotz Nichtwissen gegenüber dem anderen eine positive Beziehung zu ihm aufzubauen. Es macht Handlungen möglich trotz Nichtwissen. Weiß ich im Vorfeld alles, erübrigt sich das Vertrauen. Die Transparenz ist ein Zustand, in dem jedes Nichtwissen eliminiert ist. Wo die Transparenz herrscht, ist kein Raum für das Vertrauen.“

Die beschädigte Nation entschädigt sich durch solche Debatten. Auch diese hier ist ein Teil davon.

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