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Meinung: Wandel trotz Anbiederung

Vor 25 Jahren wurde die Solidarnosc gegründet. Sie trug viel mehr zur deutschen Einheit bei als der Sowjetführer Michail Gorbatschow

Es war einmal ein kommunistischer Parteichef. Der hieß Michail Gorbatschow, oft auch liebevoll Gorbi genannt. Eines Tages kam nun dieser Gorbi und schenkte – in Zusammenarbeit mit wichtigen Politikern des Westens – den einst von der Sowjetunion unterjochten Völkern die Freiheit und den Deutschen die Einheit. An dieses Märchen glauben viele Deutsche – aus mehreren Gründen: wegen ihrer Erinnerungskultur, wegen ihrer Gemütslage und wegen ihres Geschichtsverständnisses.

Vor 15 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt. An dieses Ereignis wird sich oft und gern erinnert. Zu den offiziellen Feiern werden aber ausschließlich einige auserlesene Größen der Weltpolitik eingeladen – und Gorbi selbstverständlich. Jenseits der Oder verblüfft das. Waren denn westliche Politiker mehr als geschickte Verwalter der Wendeereignisse in den Jahren 1989-1991? Gorbatschow freilich ist ein anderes Kaliber. Der letzte Mohikaner der Sowjetunion stand mitten im politischen Dauergewitter. Weil er, damals noch Leninist, der Entwicklung stets hinterherlief, gewann seine wirtschaftlich ohnehin verheerende Perestrojka spätestens dann endgültig absurde und lächerliche Züge, als im Dezember 1991 die Sowjetunion aufgelöst wurde. Dass der erste und letzte sowjetische Präsident in die Pläne Russlands, Weißrusslands und der Ukraine, seinen Staat aufzulösen, nicht eingeweiht worden war, spricht Bände.

Die Gemütslage vieler Deutscher ist – auch das verständlich – durch die jahrzehntelange Erfahrung der Teilung geprägt. Deshalb betrachten sie den komplexen Vorgang des Niedergangs des kommunistischen Systems und Imperiums vorwiegend durch das Prisma der Wiedervereinigung. Dabei werden der nationale Schmerz und die nationale Freude überbewertet. Die Tatsachen hingegen bleiben oft auf der Strecke.

Schließlich scheint in Deutschland immer noch ein geradezu reaktionäres Geschichtsverständnis vorzuherrschen: „Große Männer machen Geschichte.“ Sowohl der Mut, die Ausdauer, der Idealismus, die harte Arbeit des oft anonymen Widerstandes gegen den Kommunismus als auch die Unzufriedenheit der Völker mit diesem System bleiben weitgehend unberücksichtigt. Eben dieses Verständnis macht es möglich, über den Zusammenbruch des Kommunismus zu räsonieren, ohne auf dessen Dauerkrise in Polen einzugehen.

Das kommunistische System war durch mehrere schwere Krisen gegangen: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in der Tschechoslowakei und Polen und 1970 sowie 1976 abermals in Polen. Genau vor 25 Jahren begann jedoch die größte und unlösbare Krise – jene des Polnischen Sommers. Die Streiks begannen zwar bereits im Juli 1980, aber seit Mitte August arbeitete die Danziger Lenin-Werft nicht mehr, wodurch sich die Lage dramatisch zuspitzte. Denn Danzig war ein Jahrzehnt zuvor das Zentrum von großen Demonstrationen und Streiks gewesen. Die kommunistische Führung mit Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski hatte damals gut 1000 Panzer in den renitenten Ostseestädten auffahren lassen. Es gab Schießbefehl, dutzende Tote, hunderte Verletzte und hastige Begräbnisse der Opfer der staatlichen Gewalt.

Nicht zuletzt wegen dieser Erfahrung beschränkten sich die polnischen Arbeiter im August 1980 auf eine einzige Form des Protestes: den Besatzungsstreik. Die von der Bevölkerung massiv unterstützte Streikbewegung mit dem Komitee in der Lenin-Werft zeichnete sich durch ausgezeichnete Organisation, Zusammenarbeit von Arbeitern und Intellektuellen sowie ausgesprochen friedlichen Charakter aus. Die Streikenden nahmen zudem jeden Tag an der Heiligen Messe teil, was nicht zuletzt die Wirkung des ersten Besuchs von Johannes Paul II. in seinem Heimatland ein Jahr zuvor bezeugte.

Alles in allem befanden sich rund 750 000 Menschen im Ausstand, wobei die Entwicklung im zweitwichtigsten Land des Ostblocks unausweichlich auf einen Generalstreik zulief. Gorbatschow kommentierte das später so: „In Polen war das System ins Wanken geraten, als die schlesischen Bergleute die Hafenarbeiter von Danzig unterstützten.“

Um der Ausbreitung der Streikbewegung vorzubeugen, akzeptierten die Kommunisten zum ersten Mal in der Geschichte alle Forderungen der Protestierenden. Dazu gehörte die Freilassung der politischen Gefangenen, die Verabschiedung eines Zensurgesetzes, die Bekanntgabe der Informationen über die Auslandsverschuldung der Volksrepublik und – am wichtigsten – die Zulassung von freien Gewerkschaften. Die feierliche Unterzeichnung des Abkommens zwischen dem überbetrieblichen Streikkomitee mit Lech Walesa an der Spitze und dem stellvertretenden Premierminister Mieczyslaw Jagielski am 31. August wurde im staatlichen Fernsehen übertragen. Auch das hatten die Streikenden gefordert.

Binnen einiger Wochen traten den neuen Gewerkschaften, die den Namen „Solidarnosc“ trugen, gut neun Millionen Menschen bei, etwa 80 Prozent aller polnischen Arbeitnehmer. Die „Solidarnosc“wurde zur größten und wirkungsvollsten organisierten Massenbewegung der europäischen Nachkriegsgeschichte. Darüber hinaus entstanden die „Solidarnosc der Privaten Landwirte“ mit rund drei Millionen Mitgliedern sowie zahlreiche andere freie Organisationen und Vereine. Die Dauerkrise des Kommunismus begann.

Die weitere Entwicklung war nicht minder dramatisch. Am 13. Dezember 1981 verhängte der inzwischen zum Parteichef aufgestiegene Jaruzelski den Kriegszustand und verbot die „Solidarnosc“ samt anderen Verbänden. Insgesamt wurden knapp 10 000 Menschen auf ungewisse Zeit „interniert“. Im Laufe der 80er Jahre sind dutzende – die genaue Zahl ist bis heute unbekannt – Anhänger und Aktivisten der Gewerkschaftsbewegung umgebracht worden. Und dennoch etablierte sich der friedliche Untergrund. Regelmäßig erschienen hunderte Zeitschriften, in denen über politische Ziele des Untergrundes und die künftige Einführung der Marktwirtschaft diskutiert wurde. Die Gesamtauflage der von polizeilich verfolgten Verlagen herausgegebenen Bücher belief sich auf mehrere Millionen Exemplare.

Vom polnischen Staat verfolgt, arbeitete die „Solidarnosc“ seit 1980 in einem auch international partiell feindlichen Umfeld. Es galt die so genannte Breschnew-Doktrin, die eine Militärintervention der „sozialistischen Bruderstaaten“in jedem Land des Ostblocks, in dem der Sozialismus bedroht war, zuließ. Von den kommunistischen Parteiführern drang übrigens niemand so stark auf einen Armee-Einmarsch in Polen wie der ideologisch bornierte Erich Honecker. Er hatte dafür „gute Gründe“, war ihm doch bewusst, dass ein nichtkommunistisches Polen der DDR den Garaus machen würde.

Zugleich fügten sich tausende aufrechte, meist anonym gebliebene westdeutsche Freunde, Helfer und gewöhnliche Sympathisanten der „Solidarnosc“ in die breite Unterstützung für den polnischen Freiheitskampf, deren leuchtende Gestalten Papst Johannes Paul II. und US-Präsident Ronald Reagan waren. Nur die vermeintlichen Realpolitiker aus der Bundesrepublik, die den Zusammenhang zwischen der Freiheit Polens und der deutschen Einheit nicht zu erkennen vermochten, bekleckerten sich nicht gerade mit Ruhm.

Hans-Dietrich Genscher reagierte im März 1981 verärgert, als ihm in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau ein bekannter Journalist, der – wie die meisten Polen von damals – der „Solidarnosc“ nahe stand, vorgestellt wurde. Von der Nachricht über die Verhängung des Kriegszustands in Polen während seines DDR-Besuchs überrascht, erklärte wiederum Helmut Schmidt am 13. Dezember 1981 in Anwesenheit Honeckers, sie wären beide gleichermaßen bestürzt darüber, dass dieser gewaltsame Schritt „notwendig war“. Zwei Monate später umarmte Herbert Wehner bei seinem Besuch in Warschau Jaruzelski, was ein deutscher Diplomat in der polnischen Hauptstadt süffisant kommentierte: „Mag sein, dass dabei Herbert Wehners tiefe Empfindungen für Polen ihren sichtbaren Ausdruck fanden.“

Auch Franz Josef Strauß unterstützte die Politik des Militärregimes während seiner „privaten“ Reise nach Polen im Jahre 1983, über die er in seinen Erinnerungen kein einziges Wort verlor. Bei seinem Besuch im November 1984 vermied Hans-Jochen Vogel jegliche Berührung mit den Repräsentanten der „Solidarnosc“. Im Dezember 1985 verweigerte sogar der deutsche Friedensnobelpreisträger Willy Brandt ausdrücklich ein Treffen mit dem polnischen Friedensnobelpreisträger Lech Walesa. Im Oktober 1987 wiederholte Vogel seinen traurigen Eiertanz von 1984. Für diese Haltung, die alle Standards der westlichen Polen-Politik deutlich unterbot, hat sich bis zum heutigen Tag ausschließlich Egon Bahr bei der „Solidarnosc“ entschuldigt.

Zwei falsche Prämissen – „Wandel durch Annäherung“ und „Der Schlüssel zur deutschen Frage liegt in Moskau“ – prägten auch nach 1982 die bundesdeutsche Ostpolitik. Man war um eine Sonderbehandlung seitens der Kreml-Herren bemüht. Der in der Bundesrepublik oft als „nationalistisch“ diffamierte polnische Widerstand ging dagegen davon aus, dass die Überwindung des kommunistischen Systems und der Teilung Europas unausweichlich ist, wodurch sowohl die Unabhängigkeit Polens als auch die deutsche Frage auf die Tagesordnung kommen müssten.

Bereits im Jahre 1978 schrieb der polnische Literaturwissenschaftler Zdzislaw Najder: „Eine der Folgen der Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch Polen wird die Öffnung neuer Möglichkeiten für die Wiedervereinigung Deutschlands sein…, die uns Polen das Tor zur Welt öffnen“ wird. Das weitere Schicksal Najders war für polnische Dissidenten typisch. Im August 1980 beriet er das Streikkomitee in Danzig. Von der Verhängung des Kriegszustandes im Ausland überrascht, nahm er einen von den Amerikanern vorgeschlagenen Posten in München an und wurde Chef der Polnischen Sektion von „Radio Freies Europa“. Daraufhin verurteilte ihn die Jaruzelski-Justiz in Abwesenheit zum Tode und zum Verlust der polnischen Staatsbürgerschaft. Wäre er in seinem Lande geblieben, wäre er „nur interniert“ worden.

Im Sommer 1988 kam es in Polen erneut zu einer Streikwelle, die den reibungslosen Übergang zum Pluralismus am Runden Tisch im Februar/März 1989 einleitete. Die Sowjetunion, die sich 1988 nach dem verlorenen Krieg aus Afghanistan zurückgezogen hatte, griff militärisch nicht ein. Die „Breschnew-Doktrin“ war somit in Polen gestorben. Eine Reihe von Umbrüchen in den Satellitenstaaten der Sowjetunion folgte, und die nationalen Bewegungen in der Sowjetunion gewannen an Bedeutung.

Niemand freilich profitierte 1989 so stark vom jahrelangen Freiheitskampf der Polen wie jene Ostdeutschen, die massenweise aus der DDR flüchteten und in ihrem Land demonstrierten, sowie jene Westdeutschen, die noch die Wiedervereinigung ihres Landes wollten. Denn mit dem polnischen Systemwechsel gab der Kreml die Brücke zwischen der Sowjetunion und der DDR auf, ohne die weder der sozialistische deutsche Staat noch das sowjetische Imperium weiter existieren konnten.

Im August 1980 wurde der Zerfall des Kommunismus eingeleitet. Diesen Prozess hat die „Solidarnosc“ – nicht alleine, aber maßgeblich – geprägt. Nach dem Systemwechsel haben viele Helden des Polnischen Sommers ihr Land in die Nato und EU geführt.

In Polen werden sie jedoch seit langem kaum noch als Helden gefeiert, sondern vor allem als Politiker beschimpft. Ihnen wird vorgeworfen, die naiven Hoffnungen auf schnellen Wohlstand und eine geordnete Demokratie nicht erfüllt zu haben. Nicht zuletzt daher kennen die jungen Polen die Geschichte des Polnischen Sommers recht wenig. Gewiss haben sie auch von Professor Najder kaum etwas gehört, der vor einigen Wochen für seine Verdienste um die Freiheit Polens und Europas mit dem französischen Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde. Dennoch gibt es zwischen der polnischen und deutschen Ignoranz einen wichtigen Unterschied: An das Märchen von Gorbi glaubt in Polen keiner.

Jerzy Macków

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