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Weltuntergang

© Martha von Maydell für den Tagesspiegel

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen?: Die moderne Apokalypse ist ein Aufruf zum Handeln

In Krisen kann die Angst vor dem Weltuntergang lähmen. Doch apokalyptische Visionen öffnen den Blick für das große Ganze – und damit auf Chancen zur Veränderung.

Ein Essay von Alexander-Kenneth Nagel

Unsere jüngste Gegenwart scheint besonders reich an Krisen zu sein: Von der Finanzkrise über die Klimakrise und die sogenannte Flüchtlingskrise, die Coronakrise, bis hin zur russischen Invasion der Ukraine wirkt das dritte Jahrtausend wie eine einzige gedrängte Abfolge globaler Bedrohungen.

Dabei haben diese globalen Krisenlagen bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Sie imaginieren das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Die gemeinschaftliche Interpretation dieser Krisenerfahrung greift immer wieder auch auf religiöse Kategorien zurück, etwa indem eine Krisenerscheinung als „apokalyptisch“ qualifiziert wird.

Wie aber kommt es, dass von all den vielen sperrigen Ausdrücken der Religionsgeschichte gerade die Apokalypse im Alltagsverständnis spätmoderner Gesellschaften so präsent ist? Die Grundbedeutung des Wortes – Offenbarung – dürfte außerhalb theologischer Kreise heute kaum jemandem geläufig sein. Auch den Inhalt und Aufbau der Johannes-Offenbarung, dem letzten Buch des Neuen Testaments, können wohl nur die wenigsten wiedergeben.

Die Erlösung durch Gott spielt keine Rolle

Wenn alltagssprachlich von der Apokalypse die Rede ist, dann ist damit in aller Regel der Weltuntergang oder die Katastrophe schlechthin gemeint. Die Perspektive der Erlösung durch ein von Gott herabgesandtes Himmlisches Jerusalem hingegen, die in der Johannes-Offenbarung vergleichsweise kurz, aber durchaus gewaltig zur Sprache kommt, spielt im alltäglichen Gebrauch kaum eine Rolle.

Soziologisch ist es hochinteressant, dass auch in modernen Gesellschaften ein eigenständiges Genre „apokalyptischer“ Krisendeutung wirksam ist, welches nicht unbedingt inhaltlich, aber doch strukturell in der Tradition der biblischen Apokalyptik steht.

Zu den Kennzeichen dieses Genres gehören die Vorstellung einer weltweiten Katastrophe durch Faktoren von A wie Atomkraft bis Z wie Zombies in Verbindung mit einem ausgeprägten Gestus der Offenbarung, der Vorstellung, sich an einem historischen Wendepunkt zu befinden und, damit verbunden, einer akuten Naherwartung.

Die apokalyptische Deutung kann im Alltagswissen einzelner Menschen verankert sein und ihre Situationsbestimmung und ihr Handeln prägen; etwa wenn sogenannte Prepper (abgeleitet von Englischen „to be prepared“ für „bereit sein“) sich für Ernstfälle unterschiedlicher Art durch die Hortung von Lebensmitteln oder den Bau von Schutzräumen wappnen. Sie kann aber auch für politische Mobilisierung genutzt werden, etwa im Fall der Klimaprotestbewegung „Letzte Generation“.

Was zeichnet nun säkulare Apokalypsen aus? In seinem Buch „Die Apokalypse in Deutschland“ aus dem Jahr 1988 hat der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung den Versuch unternommen, allgemeine Merkmale apokalyptischer Erzählungen festzuhalten.

Ausgehend von biblischen Texten unterscheidet er zwischen apokalyptischen Bildern (wie kosmischen oder Naturkatastrophen und dem Zusammenbruch der sozialen Ordnung), Stil (die typische Abfolge von Krise, Gericht und Erlösung) und Rhetorik (beispielsweise einer Neigung zur Übertreibung). Moderne Apokalypsen knüpfen an diese Tradition an, weisen aber einige charakteristische Unterschiede auf.

Auf der Ebene der Bilder rücken menschengemachte Katastrophen in den Vordergrund. Ein Klassiker sind technologische Errungenschaften, die sich gegen ihre Schöpfer wenden: Die Atomkraft empfiehlt sich als emissionsarme Energiequelle und birgt zugleich die Gefahr der totalen Selbstauslöschung, globale wirtschaftliche Verflechtungen versprechen Wohlstand und verschärfen zugleich die pandemische Lage.

Auf der Ebene des Stils verschiebt sich die Erlösungsperspektive – oder geht ganz verloren: Ebenso wie der Mensch für die Krise verantwortlich ist, wird er nun auch zum Sachwalter der Erlösung. Während die frühen Christ:innen den Weltuntergang als Auftakt künftigen Heils begrüßten, wird heute in der Regel die Krise beschworen, um sie abzuwenden.

Damit verschiebt sich auch die rhetorische Perspektive: Wollten klassische apokalyptische Erzähler ihren Zuhörer:innen Trost zusprechen und sie zur Geduld anhalten, sind moderne apokalyptische Szenarien in aller Regel Aufrufe zum Handeln. Was klassische und moderne Apokalypsen eint, sind neben bildgewaltigen Inszenierungen des Untergangs, vor allem der Gestus von Offenbarung und Dringlichkeit sowie der Hang zu dualistischen Zuspitzungen.

Die frühen Christ:innen gegrüßten den Weltuntergang als Auftakt künftigen Heils, heute wird die Krise beschworen, um sie abzuwenden.

Alexander-Kenneth Nagel

In dieser Mischung aus Vereinfachung und Naherwartung liegt ein totalitäres Moment der Apokalyptik, das einer demokratischen Debattenkultur diametral entgegensteht. Um dennoch produktiv damit umzugehen, gilt es die anhaltende Faszination apokalyptischer Deutung besser zu verstehen.

Was macht also den Reiz aus, unter welchen gesellschaftlichen und psychologischen Bedingungen gedeihen Weltuntergangserzählungen? Ein zentraler Aspekt ist sicher die Verarbeitung von Unsicherheit und Krisen. Unter Bedingungen gesellschaftlicher Differenzierung und Fragmentierung bringt die totalitäre Optik der Apokalypse die Zentralperspektive zurück und verspricht Orientierung.

Eine Art existentialistisches Gedankenexperiment, um sich aus der lauen Mittelmäßigkeit des Alltags heraus zu imaginieren.

Alexander-Kenneth Nagel

Ein weiterer Aspekt ist das, was der Psychoanalytiker Michael Balint als „Angstlust“ bezeichnet hat, also das bewusste Aufgeben und Wiedererlangen von Sicherheit, indem man sich kontrolliert einer Gefahrensituation aussetzt. Die Apokalyptik wäre demnach eine Strategie, um Angst abzubauen oder Resilienz gegen künftige Krisen zu entwickeln. Und drittens könnten apokalyptische Visionen eine Antwort nicht auf Erfahrungen der Prekarität, sondern von Saturiertheit sein. In diesem Sinne wäre die moderne Apokalyptik eine Art existentialistisches Gedankenexperiment, um sich aus der lauen Mittelmäßigkeit des Alltags heraus zu imaginieren und auf das Wesentliche zu auszurichten.

Es gibt also nicht die eine gesellschaftliche Situation oder den einen sozialen Standort für apokalyptische Erzählungen. Dementsprechend taugen sie auch nicht als eine Art Differentialdiagnose für den Zustand oder die Mentalität moderner Gesellschaften im Sinne von: „Die Apokalypse ist das letzte Warnzeichen vor dem Kollaps.“

Die Apokalyptik als Ausdruck bürgerlicher Abstiegsängste

Der Schlüssel zum Verständnis liegt vielmehr in der relativen Deprivation, also der Sorge, dass es einem künftig und im Verhältnis zu anderen schlechter geht als jetzt. Anders als die frühen Christen befinden wir uns nicht in einer Situation der akuten Bedrängnis. An die Stelle der konkreten gegenwärtigen Bedrohung tritt die abstrakte Furcht vor dem künftigen Verlust. In diesem Sinne kann die Apokalyptik auch ein Ausdruck bürgerlicher Abstiegsängste sein.

Unabhängig von der soziologischen Verortung haben Kulturwissenschaftler:innen immer wieder auf die ästhetische Qualität apokalyptischer Szenarien hingewiesen: Die bildgewaltige Beschwörung der Untergangs und die Tatsache, dass es ums Ganze geht, erzeugen eine natürliche Spannung. Die Tatsache, dass das Ende dem Kundigen durch Zeichen angekündigt wird, reizt zur Dechiffrierung und macht die Welt wieder zu jenem „Zaubergarten“, der sie laut dem Soziologen Max Weber in vormodernen Zeiten gewesen ist.

Den Endzeitgeist moderner Gesellschaften besser zu verstehen, ist das eine, mit ihm zu leben das andere. Und so stellt sich zum Abschluss die Frage, welche praktischen Konsequenzen sich aus den sozial- und kulturwissenschaftlichen Einsichten ergeben könnten.

Eine besondere Apokalypse-Kompetenz ist heute gefragt.

Alexander-Kenneth Nagel

Um den nicht enden wollenden Schwall apokalyptischer Szenarien zu kanalisieren und einzuordnen, bedarf es einer besonderen Apokalypse-Kompetenz. Sie umfasst zuallererst die Fähigkeit zur kritischen Rezeption und Dekonstruktion apokalyptischer Szenarien: Wer die Strukturlogiken und Mobilisierungstechniken endzeitlicher Szenarien kennt, lässt sich (beispielsweise im Umgang mit medialen Diskursen) nicht so leicht von Ängsten überwältigen und verschafft sich auf diese Weise einen Denkfreiraum zum Abwägen der vorbrachten Argumente.

Die Debatten müssen wiedereröffnet werden

Eng damit verbunden ist die Ebene der Introspektion und Selbstreflektion: Wo liegen meine eigenen Existenzängste? Wann fühle ich mich von den herrschenden Verhältnissen überwältigt? Eine dritte Ebene, welche die beiden anderen voraussetzt, betrifft die Kompetenz zur Intervention. Gemeint ist die Fähigkeit, das diskursbrechende Potential bestimmter apokalyptischer Denk- und Redeformen zu erkennen und die Debatte wieder zu öffnen.

Die genannten Kompetenzen beziehen sich vor allem auf die Schattenseiten apokalyptischer Krisendeutung – dualistische Verkürzungen, Übertreibungen, Hyperaktivität – und ihre Bewältigung.

Aber vielleicht liegt in der apokalyptischen Vision grundstürzender Veränderung auch eine Chance? Die apokalyptische Perspektive zoomt den Betrachter weit aus dem Klein-Klein der alltäglichen Bezüge heraus und reklamiert für sich einen Blick auf das große Ganze.

Darin liegt eine mögliche Inspirationsquelle für gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Um dieses visionäre Potential zu heben, gilt es, den Anliegen und Zielvorstellungen apokalyptischer Sprecher:innen Gehör zu schenken und sich zugleich jeder revolutionären Nötigungsrhetorik entschieden entgegenzustellen.

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