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Versorgung von Bedürftigen am 11.09.2013 in der Wohnungslosen-Tagesstätte "Warmer Otto" der Berliner Stadtmission. Foto: Britta Pedersen/dpa

© Foto: dpa/Britta Pedersen

Und jetzt noch eine Rezession: Ganz Deutschland wird zum Stresstest

Jede Krise hat einen Anfang, kaum eine hat ein Ende. Wer sich überfordert fühlt, tendiert zu radikalen Maßnahmen.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wie stark ist Deutschland? Fünf Erschütterungen haben das Fundament des Landes in den vergangenen 14 Jahren ins Wanken gebracht. Die Beben dauern an, auch wenn deren Intensität nachlässt. Es begann mit der Finanz- und Schuldenkrise. Noch immer leben mehrere Euro-Staaten weit über ihre Verhältnisse. Es folgte die Flüchtlingskrise. Noch immer sterben Zufluchtsuchende im Mittelmeer. Die Integration derer, die ein Aufenthaltsrecht haben, kommt schleppend voran.

Darauf der Brexit. Großbritannien fehlt der EU bis heute. Dann Corona. Die Inzidenz liegt aktuell bei einem Wert, der zu Beginn der Pandemie noch Alarm ausgelöst hatte. Und schließlich der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Eine Zeitenwende, fürwahr, mit all ihren Konsequenzen von Leid und Tod, Flucht und Zerstörung, Inflation und Energieknappheit. Und als wäre das alles nicht genug, wölben sich – begleitet von verheerenden Waldbränden und Überschwemmungen – als sechstes die Folgen der Erderwärmung über die Menschen.

Nun kommt eine siebte Plage hinzu. Analysten prophezeien für das vierte Quartal eine europaweite Rezession. Minus 3 Prozent Wachstum in Italien, minus 2,5 Prozent in Frankreich und Deutschland, minus 2 Prozent für die Eurozone insgesamt. Befürchtet wird eine Pleitewelle. Menschen, die hungern, werden zu Tafeln gehen. Für Menschen, die frieren, sind Wärmestuben geplant. Es wird Szenen geben, die in einem der reichsten Länder der Welt vor kurzem noch undenkbar schienen.

Deutsche Produkte brauchen den chinesischen Absatzmarkt

Das Wort „Krise“ klingt nach Anfang und Ende. In diesem Fall täuscht der Eindruck. Anfang ja, Ende offen. Deutsche Produkte brauchen den chinesischen Absatzmarkt, die Abhängigkeit von der Entwicklung dort ist groß. Derzeit sind zwei Millionenmetropolen, Shenzhen und Chengdu, im Teil-Lockdown. Insgesamt sind fast 30 Städte von den strengen Null-Covid-Maßnahmen betroffen. Die Wirtschaft der Volksrepublik leidet, diverse Lieferketten sind unterbrochen. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Offen ist auch der Ausgang der Midterms, der Gouverneurs- und Kongresswahlen in den USA, am 8. November. Sollten die Demokraten ihre Mehrheiten im Senat und Repräsentantenhaus verlieren, dürften jene Kräfte lauter und einflussreicher werden, die das Schicksal der Ukraine stärker in die Verantwortung Deutschlands und Europas legen wollen. Ist Deutschland gewappnet für eine Führungsrolle innerhalb der EU beim Wiederaufbau der Ukraine? Und was wird aus der Nato, die für Donald Trump einst nur Geldverschwendung bedeutete?

Rundum Probleme: Im Osten Europas wütet Wladimir Putin, im Südosten befindet sich eine unberechenbare Türkei, im Süden liegt ein von Bürgerkriegen und Hungersnöten gepeinigtes Afrika, aus dem viele Menschen gen Norden fliehen wollen.

Wie stark ist Deutschland? Die Antwort darauf hat vor allem mit Mentalität zu tun. Wer sich überfordert fühlt, tendiert zu radikalen Maßnahmen: Grenzen schließen, mit Putin über Gebietsabtretungen verhandeln, die Bundeswehr weiter kaputtsparen. Die anderen befolgen den Imperativ der Zuversicht: Kopf hoch, trotz allem – und stets einen Schritt nach dem anderen. Vielleicht setzen sich am 8. November die Demokraten durch. Das wäre immerhin ein Trippelschritt.

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