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Jost Müller-Neuhof ist rechtspolitischer Korrespondent des Tagesspiegels. Seine Kolumne "Einspruch" erscheint jeden Sonntag auf den Meinungsseiten.

© Kai-Uwe Heinrich

Ein SPRUCH: Schwarzseher und Weissager

Vor 30 Jahren kippten die Richter in Karlsruhe das Volkszählungsgesetz. Was die Richter damals sagten, gilt: Die Vermassung und Verknüpfung von Daten erübrigt nicht ihren Schutz

Im Weihnachtsgeschäft vor 30 Jahren waren sie der große Renner, sie galten dem „Spiegel“ damals als „neuestes Spielzeug der Elektronikindustrie“: Heimcomputer. Doch besorgt fragten Eltern, was ihre Kinder damit alles trieben. Nach Umfragen hatte die Hälfte der Deutschen Angst vor der Kiste, drei Viertel glaubten, er vernichte Arbeitsplätze und sogar 80 Prozent waren sicher, „dass man uns damit besser überwachen kann“.

Schwarzseher oder Weissager? Die große Vernetzung war noch fern, doch die Furcht gegenwärtig. So kam es am 15. Dezember 1983 im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu einem historischen Urteil. Die Richter kippten das Volkszählungsgesetz, weil es gegen ein neues „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ verstoße, das sie aus der Menschenwürde und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableiteten. Weitsichtig erkannten sie, dass unter „heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung“ ein solcher Schutz immer wichtiger würde.

Wohl wahr. Und trotzdem wurden sie von der Geschichte überholt. Nach dem Richterspruch sollte jedes persönliche Datum gleichwertig sein und jeder die Befugnis erhalten, über dessen Verwendung selbst zu bestimmen. Es dürfe nicht sein, dass „Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“. Für Piratenkongresse und Fensterreden von Politikern mögen das noch taugliche Bezugspunkte sein. Realiter haben sie sich erledigt. Man muss dafür nicht das Großbeispiel NSA bemühen. Es reichen schon ein paar Gedanken zu der kleinen Frage, wie Abmahnanwälte sich tausendfach IP-Adressen von Internetnutzern verschaffen, denen sie Urheberrechtsverletzungen unterstellen. Ganz zu schweigen vom Cookie-Wahn und personalisierter Werbung im ewigen Google-Universum. Die informationelle Selbstbestimmung ist ein frommer Wunsch. Heute wissen wir, dass unsere Daten noch leben werden, wenn wir selbst längst tot sind. Zyniker würden sagen: Selbstmord ist auch keine Lösung.

Trotzdem gilt, was die Richter damals sagten. Die Vermassung und Verknüpfung von Daten erübrigt nicht ihren Schutz. Im Gegenteil. Und es bleibt der Grundsatz, dass es für Speicherung und Verwendung Gesetze geben muss. Wir führen ein Leben im Netz. Und wir haben dort denselben Anspruch auf Schutz und Hilfe wie in unserem Alltag offline.

Vor 30 Jahren war das, was heute Internet heißt, noch in der Hand von Wissenschaft und Militär. Heute lässt das, was daraus geworden ist, das Volkszählungsurteil alt aussehen. Aber es ist nicht alt. Ängste werden nicht alt. Menschen wollen nicht überwacht werden. Sie wollen auch nicht beobachtet werden. Sie wollen, dass man sie in Ruhe lässt. Kann sein, dass das kein Grundrecht ist. Aber wir werden es verteidigen.

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