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Alexej Navalny  2019 bei einer Demonstration in Moskau.

© PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS/Pavel Golovkin

Putin-Opfer Nawalny: Wer ehrt die Dissidenten?

Alexej Nawalny, der bekannteste politische Gegner von Wladimir Putin, ist in russischer Haft gestorben. Spätestens jetzt darf der Westen die Verbrechen des Regimes nicht mehr relativieren.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Einerseits stimmt es, was Olaf Scholz in einer ersten Reaktion zum Tod von Alexej Nawalny gesagt hat. Der Bundeskanzler erinnerte an ein Treffen mit dem russischen Oppositionspolitiker in Berlin, als dieser sich in Deutschland von einem Giftanschlag erholte. In dem Gespräch sei es auch um den Mut Nawalnys gegangen, wieder in seine Heimat zurückgehen zu wollen, sagte Scholz, „und wahrscheinlich hat er diesen Mut jetzt mit seinem Leben bezahlt“. Ähnlich drückte es EU-Ratspräsident Charles Michel aus. Nawalny habe „für seine Ideale das ultimative Opfer gebracht“, sagte er.

Andererseits ist das allenfalls die halbe Wahrheit. Sie dreht sich um die wahrlich bewundernswerte Charakterstärke des Opfers, lässt aber die abgrundtiefe Bösartigkeit des Täters unerwähnt. Nawalny wurde ermordet. Sein Mörder ist der Präsident Russlands, Wladimir Putin. Das ist jedem klar, der den Lebensweg Nawalnys verfolgt hat. Seine Drangsalierung, seine Hartnäckigkeit, die Umstände des Giftanschlags auf ihn, seine Inhaftierung.

Putins Blutspur reicht von Grosny über Aleppo bis Kiew

Dass je ein deutscher Regierungschef Putin einen „lupenreinen Demokraten“ nannte, klingt im Nachhinein noch zynischer als zuvor. Nein, dieser Mensch herrscht seit vielen Jahren autoritär, autokratisch, neo-hegemonial. Korruption, Willkürjustiz, Journalistenermordungen, Oppositionsunterdrückung: Das sind seine Mittel. Dies nicht früh gesehen, verstanden und ausgesprochen zu haben, gehört zu den Schandflecken der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Putins Blutspur reicht von Grosny über Aleppo bis Kiew. Um Recht und Moral schert er sich keinen Deut. Er gibt nicht einmal vor, es zu tun, weil er es nicht muss. Denn seine atomare Armada schützt ihn. Das begrenzt auch die Reaktionsmöglichkeiten des Westens auf den Tod Nawalnys. Das Instrumentarium der Sanktionen gegen Russland ist weitgehend ausgereizt. Viel mehr als ein Händeringen auf höchstem Niveau ist nicht drin.

Jedes Kleinreden und Relativieren von Putin muss aufhören

Was bleibt, ist eine Hoffnung: dass endlich, endlich jedes Beschweigen, Kleinreden und Relativieren von Putins Regime aufhört. Es führt einen erbarmungslosen Krieg gegen ein Land, dessen Souveränität zu achten, es sich verpflichtet hatte. Es setzt Energie als Waffe ein. Es lässt seine Soldateska Massaker wie das in Butscha verüben, hält seine Hand über Giftgaseinsätze des syrischen Diktators. Was muss man mehr wissen, um sich ein festes Urteil über Putin bilden zu können?

Die Folgen daraus betreffen unmittelbar die Haltung des Westens zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die Eiseskälte, mit der Putin sein Wort bricht, lässt den Glauben an eine mögliche Verhandlungslösung schwinden. Wer sie dennoch propagiert, was aus realpolitischen Erwägungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollte, muss jeden Zweifel an ihrer Dauer und Belastbarkeit ausräumen. Das ist durch den Tod Nawalnys noch schwerer geworden.

Mehr als drei Jahre lang saß der „Kremlkritiker“ in Haft. Das Wort steht in Anführungszeichen, weil es zu harmlos wirkt. Nawalny stand eher in der antitotalitären Widerstandstradition von Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow und Natan Sharansky. Er kämpfte mit offenem Visier, wurde gefoltert, vergiftet, duldete und litt. Die Bilder von ihm im Glaskasten als Angeklagter vor der russischen Justiz haben sich ins kollektive Gedächtnis aller freiheitsliebenden Menschen eingebrannt.

Menschen, die wir nicht vergessen wollen

Im Dezember 2021 wurde Nawalny in Abwesenheit vom Europäischen Parlament in Straßburg der Sacharow-Preis verliehen. Seine Tochter, Daria Nawalny, nahm die Auszeichnung entgegen. Damals entstand eine Idee: Wie wäre es, zum Gedenken an ihn und viele andere Dissidenten, mitten in Berlin – ideal wäre der Pariser Platz – eine Tafel mit einem digitalen Laufband zu installieren. Darauf stünden die Namen und Kurzbiographien all jener, die wegen ihres Einsatzes für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat weltweit verfolgt werden. Auf Deutsch und Englisch.

Die Überschrift könnte lauten: „Menschen, die wir nicht vergessen wollen.“

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