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Navid Kermani

© Reuters

Politikverdrossenheit und Engagement: Null Bock wird zum Gärtner

Alle sind politisch, aber wie? Anmerkungen zur Kölner Wahl nach dem Anschlag auf Henriette Reker und zu Navid Kermanis Rede in der Frankfurter Paulskirche.

Sehr viel ist heute von einer „Repolitisierung der Gesellschaft“ die Rede. Flüchtlingsströme, Syrienkrieg, Ukraine-Krise, Pegida-Umtriebe, Anschläge auf Künstler, Journalisten, Politiker – die schier endlos zu verlängernde Liste der Aufregungen legt es nahe: dass Menschen merken müssten, wie das politische Beben auch ins private Leben dringt. Wie eben noch fern erscheinende globale Weltpolitik zur einen selbst betreffenden Weltinnenpolitik wird.

Davon zeugt auch der – in friedlicheren Zeiten vielleicht angreifbare – Literaturnobelpreis für die politische Dokumentaristin Swetlana Alexijewitsch. Oder die Frankfurter Buchmesse, die mit den Reden von Salman Rushdie und Navid Kermani begonnen und eben beendet wurde.

Auch die kürzlich vorgestellte neue Shell-Studie, eine Umfrage unter 2600 Deutschen im Alter zwischen zwölf und 25 Jahren, zeigte einen Anstieg des politischen Interesses auf 46 Prozent. Im Jahr 2002, also kurz nach Nine-eleven, waren es 34 Prozent, auch 2010 gerade mal 40 Prozent. Verkündet wurde so: das Ende der jugendlichen „Null-Bock-Mentalität“.

Als Bestätigung für den mindestens alltagspolitischen Gemeinsinn wirkt gewiss das enorme Engagement von Bürgern jeden Alters bei der Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen. Doch gleichzeitig gibt es eine Wahl in Köln unter denkbar dramatischen Umständen. Nie zuvor wurde in Deutschland ein Kandidat oder eine Kandidatin am Tag vor der Abstimmung fast ermordet. Henriette Reker hat am Sonntag dann ihre Wahl zur neuen Kölner Oberbürgermeisterin nur im Koma erlebt. Überlebt.

Ihr so teuer bezahlter Sieg klingt wie eine letztlich noch gute Botschaft. Man meint, die Kölner seien durch den Anschlag eines bekennenden Fremdenhassers und Rechtsradikalen in Scharen aufgewacht. Indes betrug die Wahlbeteiligung in der viertgrößten deutschen Kommune, bei der es um das eigene Stadtoberhaupt ging, bloß 40,3 Prozent. Ein Negativrekord.

Wie dies mit der Annahme einer „Repolitisierung der Gesellschaft“ zusammenpasst? Niedrige Wahlbeteiligungen gelten allgemein als Zeichen der sogenannten Politikverdrossenheit. Andererseits ist gerade bei jüngeren Menschen schon seit Jahren, auch ohne Shell-Studien, eine wachsende politische Beteiligung zu beobachten. Sie aber mündet meist nicht in Parteimitgliedschaften oder einen sonstigen Eintritt ins (vermutete) politische Establishment. Sie artikuliert sich eher in Nichtregierungsorganisationen, im außerparlamentarischen Raum, in Bürgerbewegungen, Grassroot-Aktivitäten, vermittelt in eigenen Blogs und sozialen Netzwerken. Beeindruckend.

Freilich ist dies auch der Raum fürs Irrationale, für extremistische Minderheiten. Alles hängt heute mit allem zusammen – und vieles ist ambivalent: in Ursachen und Wirkungen. Oder es fehlt im politischen Raum (auf allen Seiten) an ebenjener gedanklichen und ethischen Tiefe, die Navid Kermanis grandiose Friedenspreisrede am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche bewiesen hat. Darin ging es nicht nur um die Aufklärung im und über den Islam. Kermani kritisierte mit guten Argumenten gerade eine mangelnde politische Beteiligung – bei der Abwehr von fremder politischer Gewalt und im Erkennen der eigenen Mithilfe und Verstrickung. Im Nahen Osten, in Syrien, Saudi-Arabien und hier.

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