zum Hauptinhalt

Meinung: Neu im Variete

Die Reformer versuchen sich in Sozialtechnik – ungeklärt bleibt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen

Die „Dame ohne Unterleib“ zählte im Wien der Freud’schen Jahre zu den großen Attraktionen des Praters. Diese Illusionsnummer faszinierte, sie beunruhigte aber auch all jene, die mit Erich Kästner meinen: „Die Liebe ist ein Zeitvertreib, man braucht dazu den Unterleib“. Selbstverständlich ist dieses Bild der Frau und von der Liebe ziemlich unvollständig: Der „Dame nur aus Unterleib“ fehlt alles, was ihr über den einen Moment hinaus Anmut und Sinn verleiht.

Oft genug hat die Politik versucht, ihr Gewerbe im Stil des Wiener Variete zu betreiben: Stark im Reden und Räsonnieren, schwach im Vollzug, begnügte sie sich oft genug mit sehr viel Vor- und Überbau, doch wenig Unterleib. Jetzt versucht sie es einmal anders, sind doch die Probleme der kollabierenden Sozialversicherungssysteme so konkret und dringlich, wie es klarer nicht sein könnte. Da darf man nur dankbar sein, dass sich die Politik nicht mehr mit philosophischen Betrachtungen aufhält, sondern beherzt an die Dinge herangeht: mit ungewöhnlich konkreten Antworten auf außergewöhnlich drängende Fragen. Bei allen Unterschieden im Detail, weisen die Reformansätze der Spielmacher von Gerhard Schröder und Angela Merkel doch in die gleiche Richtung: Weniger Fürsorge und Risikoabsicherung durch den Staat, mehr Eigenverantwortung und Schicksalsabhängigkeit für den Einzelnen.

Man mag noch eine Weile darüber streiten, welche Systemlösung besser ist - Kopfpauschale, Bürgerversicherung oder eine eher bewahrende Reform der gegenwärtigen gesetzlichen Krankenversicherung. Angesichts der öffentlichen Finanzen und eingedenk des bevorstehenden Gleichgewichtsverlustes unserer demografischen Zustände gibt es zu der Grundausrichtung des bevorstehenden Reform-Kurses jedoch keine vernünftige Alternative. Selten hat es mehr Sachzwang gegeben, der die Handlungslinien der Politik bestimmte.

Das wissen und anerkennen auch die meisten Kritiker in den großen Volksparteien, und mindestens im Insgeheimen machen sich selbst die reformunfreudigen Bürger in dieser Hinsicht keinerlei Illusionen. Und doch sind ihre Skepsis und ihr Widerstand gegen die Reformpolitiker aller Lager keineswegs die Ausgeburten reiner Unvernunft oder eines auf Besitzstandswahrung zielenden Egoismus. Sie sind vielmehr misstrauische oder verängstigte Reaktionen auf eine Politik, die im Grunde darauf verzichtet, Politik zu sein, weil sie sich im Wesentlichen darauf beschränkt, auf politische Fragen mit den Antworten eines Sozialtechnikers zu reagieren. Diesem geht es in erster Linie darum, dass Systeme funktionieren, Wertfragen lassen ihn kalt. Ebensolche Systembetrachtungen können in der Politik allerdings nicht funktionieren. Denn eine Gesellschaft interessiert es kaum, wie ein finanzierbares Gesundheitswesen arbeitet, und mehr, dass es am Ende bezahlbare Leistungen für jedermann produziert.

Beim Rückschnitt der Fürsorge des Staates für den Einzelnen stellt sich dann aber mit aller Macht die Frage, wie in Zukunft solidarischer Ausgleich und Gerechtigkeit geschaffen werden soll, und wer das leisten soll. Ein Staat, dem dies gleichgültig wäre, lässt sich durchaus vorstellen, und den Neoliberalen unserer Tage wäre es gerade Recht so.

Aber vorher sollte man vielleicht doch einmal offen darüber reden. Denn was an technischen Antworten zur Rettung der sozialen Sicherungssysteme daherkommt, hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Frage, in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen, leben werden und an welchen Werten sich diese orientieren soll. In dieser Hinsicht sind die Kritiker vielleicht doch ein wenig wacher als die technokratischen Reformeiferer. Solange aber die Betreiber der Sozialreformen darauf verzichten, sich den elementar politischen Fragen ihres Tuns zu stellen, dürfen sie sich nicht wundern, dass sich nirgends Begeisterung und oftmals Ablehnung ihrer Pläne einstellt. Diese Dame namens Reform ist eine nur aus Unterleib, ohne jeden Überbau. Technisch mag ein solches Geschöpf manchen faszinieren. Doch von beständiger Attraktivität kann es nicht sein.

Peter Siebenmorgen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false