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Start der Klassiksaison: Grüner Hügel, immergrün

Bayreuth und Oberammergau verbreiten 2010 wieder jene geheimnisvolle Aura des Einzigartigen. Das Theater und die Oper haben jegliches Tabu ausgereizt. An diesem toten Punkt angekommen, lechzt die Kunstwelt nach Substanz.

Die beiden Gentlemen aus Wales sind hochgestimmt und wie aus dem Ei gepellt. Michael reist seit 1962 nach Bayreuth, George ist etwas später dazugestoßen. Nichts geht ihnen über die lange sommerliche Zugfahrt zu Richard Wagner; sie gehört ebenso zum Ritual wie das schlechte und teure Hotel und das Schwitzbad im Festspielhaus. Und Jahr für Jahr die immer gleiche Katastrophe: Freche Regisseure verschandeln mit neumodischen Ideen das heilige Werk. Begonnen habe der „Niedergang“, da sind sich George und Michael einig, in den Siebzigern mit Patrice Chéreau. Den „Ring“ als militante Krupp’sche Familiensaga zu deuten, das sei nun wirklich absoluter Blödsinn. Sie kommen, sie zahlen, sie wissen im Voraus, dass sie nicht mögen werden, was der Grüne Hügel ihnen präsentiert – von diesem Sonntag an einen neuen „Lohengrin“ von Hans Neuenfels –, aber das tut der glänzenden Festspiellaune keinen Abbruch. Und so zuckeln sie durchs Fränkische und heben ihre Herzen an.

Unsere kleine Begegnung im Zugabteil verrät im Grunde alles, was das Wesen der Festspiele ausmacht. Da geschieht etwas mit den Menschen, da erleben sie etwas, das übers Jahr nicht gegeben wird. Jedenfalls ist der Sog von Bayreuth und auch von Salzburg so gewaltig, dass die Suggestion die Realität verdrängt oder auch nur verschiebt – hin zum Mythos. Dieser Drang hält nicht nur an im 21. Jahrhundert, er nimmt sogar zu. Gemessen an der Kartennachfrage könnte Bayreuth bis Weihnachten oder Ostern durchspielen, aber dann wäre der Nimbus dahin und bald auch die verrückte Lust, zu Wagner zu pilgern. Die Festspielidee hat eine irrationale, ja religiöse Färbung, und sei es auch nur die erhoffte Erlösung vom gewöhnlichen Kulturbetrieb – der sich freilich in der Festspielzeit aufs Prächtigste manifestiert.

Festspiele sind Fixpunkte. Sie kommen nicht zu uns, wir machen uns auf die Reise. „Die Großstadt ist der Ort der Zerstreuung, eine festliche Aufführung bedarf der Sammlung, bei denen, die mitwirken, wie bei denen, die aufnehmen“, schrieb Hugo von Hofmannsthal, der zusammen mit Max Reinhardt nach dem Ersten Weltkrieg die Salzburger Festspiele begründete: von Anbeginn eine exklusive Veranstaltung und eben nicht für jedermann. Salzburg freilich hat sich vom Festspiel zum Festival entwickelt, das ist ein essenzieller Unterschied. Festivals gibt es allüberall, zumal in Großstädten, zu jedem beliebigen Thema. Die Festivalisierung der Kultur schreitet voran – jede zweite Veranstaltungsreihe wuchert mit diesem Label. Festival ist business as usual, keineswegs mehr eine Besonderheit. Ruhrfestspiele, Ruhr-Triennale und das Festival Theater der Welt gehen nahtlos ineinander über, die Schaubühne produziert ihren „Othello“ für das Hellenic Festival im Amphitheater von Epidauros, um das Stück später in Berlin zu zeigen, Peter Steins „Ödipus auf Kolonos“ hat dieser Tage in Salzburg Premiere und ein paar Wochen später am Berliner Ensemble. Vom großen Festivalkuchen wollen sich alle etwas abschneiden. Ohne das Geld und die Strukturen der internationalen Festival-Joint-Ventures sähen unsere Spielpläne anders aus.

Auch Bayreuth spielt nicht auf einem anderen Stern. Die Künstler, die dort auftreten, sind dieselben, die auf den regulären Bühnen im Rampenlicht stehen. Selbst Oberammergau, das nur alle zehn Jahre sein Passionsspiel feiert, hat mit dem Regisseur Christian Stückl und seinem Ausstatter Stefan Hageneier internationale ästhetische Maßstäbe eingeführt. Und dennoch: Bayreuth und Oberammergau verbreiten 2010 wieder jene geheimnisvolle Aura des Einzigartigen, Reformen hin oder her. Das Theater und die Oper haben jegliches Tabu ausgereizt, die Werke scheinen ausgedeutet, die Provokationen erledigt. An diesem toten Punkt angekommen, lechzt die Kunstwelt nach Substanz. Nach den unzerstörbaren Geschichten. Das Alte ist jetzt die Avantgarde: das Immergrün eines übrigens recht flachen Hügels.

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