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Ohne Europa kein vereintes Deutschland - diese Erzählung reicht nicht mehr aus, um Deutsche für die EU zu begeistern.

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Deutschland in der EU: Europa braucht eine neue Erzählung

Ohne Europa kein einiges Deutschland – diese vor 21 Jahren so selbstverständliche Gleichung hat heute in vielen Köpfen keinen Platz mehr.

Ist Europa am Donnerstag mit dem Ja des Bundestages zum Euro-Rettungsschirm vor dem Schlimmsten bewahrt worden – oder hat sich Deutschland da auf eine schiefe Ebene begeben? Alle beschwörenden Worte über die vermeintliche Alternativlosigkeit der Entscheidung ändern nicht, dass es vielen Menschen unheimlich ist angesichts dessen, was seit Monaten in der Finanz- und Wirtschaftspolitik passiert. Europa ist keine visionäre Zielsetzung mehr, sondern eine Chiffre, die Angst macht.

Den Begriff „deutsche Einheit“ mit Inhalt zu füllen wäre 1985, also viele Jahre vor dem Fall der Mauer, den meisten Bundesbürgern leicht gefallen, auch wenn sie kaum mehr an so etwas dachten. Aber mit dem Begriff Deutschland verband sich eine klare Vorstellung, räumlich und inhaltlich. Zwar waren den „Westlern“ vom Lebensgefühl und vom Urlaub her, Rimini, die Costa Brava, die Algarve und Santorin näher als Usedom und Rügen. Wiedervereinigung war dann jedoch vom 9. November 1989 an sofort greifbar und Erfüllung, etwas, das von selbst zu leben begann. Helmut Kohl und Willy Brandt, Wolfgang Schäuble und Hans- Dietrich Genscher wussten damals, dass diese Wiedervereinigung – trotz Widerstand in Paris und London – möglich war, weil sich die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg in der Nato und in der Europäischen Union das Vertrauen seiner ehemaligen Gegner erworben hatte.

Ohne Europa kein einiges Deutschland – diese vor 21 Jahren so selbstverständliche Gleichung hat heute in vielen Köpfen keinen Platz mehr. Dass das eine ohne das andere nicht gekommen wäre – der Gedanke ist dem Bundesbürger des Jahres 2011 offenbar fremd. Italien, Portugal, Spanien und Griechenland sind ganz weit weg, weil es plötzlich um Geld und nicht um Urlaub geht. Dass die EU einen Rahmen geschaffen hat, in dem das friedliche Miteinander nach einem mörderischen Krieg langsam wachsen konnte, zählt nicht mehr. Das macht die Politik ratlos. Prompt hören wir, das Ziel Europa brauche eine neue Beweisführung.

Peer Steinbrück, der hinterher immer alles schon vorher besser gewusst hat, kritisiert im Bundestag das Versäumnis, den Menschen nicht rechtzeitig „eine neue Erzählung über Europa“ geliefert zu haben. Der grüne Cem Özdemir vermisste schon im Sommer in Berlin ein neues „Narrativ“ für Europa und Wolfgang Schäuble sinniert über einen direkt gewählten europäischen Präsidenten – nach dem ersten Wahlkampf dafür, meint er in der „Zeit“, wäre „Europa ein Stück weiter“.

Nun steckt hinter dem Wunsch nach einer neuen Erzählung, oder einem neuen Narrativ für Europa, nicht die Aufforderung, ein schöneres Märchen zu erzählen. Nein, es geht um eine aktualisierte Begründung, eine klare Zielbeschreibung, es geht um Antwort auf die Frage nach dem „Warum“. Europa ist kostbar, aber es ist auch teuer – so teuer, wie die deutsche Einheit war. Teilung ist viel teurer. Wer sich umschaut, erkennt die beginnende Selbstzerstörung der EU. Sie ist dabei, in Einzelstaaten zu zerbrechen, jeder mit sich selbst beschäftigt. Gefährdete Grundrechte, Hass auf Minderheiten, Populismus, ein zerfallender Staat, ein anderer, der von einem sexbesessenen alten Mann ruiniert wird – Europa gibt sich auf in einer globalen Welt, für die schon die einige EU fast zu klein ist. Ja, wir brauchen eine neue Erzählung. Es ist die alte im neuen Gewand. Frieden und Wohlstand bewahren oder verlieren wir gemeinsam.

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