zum Hauptinhalt
Emmanuel Macron und Angela Merkel nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags im Januar 2019.

© Oliver Berg/dpa

Ein Jahr Aachener Vertrag: Die deutsch-französische Freundschaft lebt nicht nur von Gesten – sie braucht Taten

Seit Deutschland und Frankreich im Januar 2019 eine engere Zusammenarbeit beschworen, ist wenig passiert. Das liegt vor allem an Deutschland. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Politik lebt auch durch Gesten und Symbole. Wer den Abschluss einer zwischenstaatlichen Vereinbarung durch die Wahl des Ortes, an dem sie unterschrieben wird, zusätzlich bedeutungsschwanger auflädt, muss sich also besonders neugierige Fragen nach Erfolg und Misserfolg gefallen lassen.

Als Aachen zu dem Ort erkoren wurde, an dem vor einem Jahr, am 22. Januar 2019, ein neuer deutsch-französischer Freundschaftsvertrag unterzeichnet werden sollte, fielen Bedeutung des Vertrages und des Ortes besonders sinnfällig zusammen. Karl der Große, Charlemagne, wie ihn die Franzosen nennen, verbindet die Geschichte beider Völker. Sein Reich dehnte sich nach seiner Krönung im Jahr 800 vom Atlantik bis nach Bayern, von der Nordsee bis zum Mittelmeer.

Aachen, die Stadt, in der er starb, ist Franzosen wie Deutschen wichtig. Hier sollte der Elysée-Vertrag von 1963 eine bedeutende Aufladung erfahren. Nach der Versöhnung beider Nationen nun eine engere Zusammenarbeit in Europa, grenzenlose Kooperation und gemeinsame Entwicklung der Wirtschaft zum Nutzen Europas. Der Anspruch war so hoch, dass der frühere tschechische Staatschef Václav Klaus sogar einen Geheimvertrag zur faktischen Beherrschung der Europäischen Union zu erkennen wähnte.

Gemessen daran ist erschütternd wenig geschehen, und das lag weniger an Frankreich als an Deutschland. Ja, in der Wirtschaft gab es kleine Fortschritte. Beim 50. Zusammentreffen der Finanz- und Wirtschaftsminister beider Länder wurde ein Wirtschaftsexpertenrat benannt, dessen Institution der Vertrag gefordert hatte. Der Chef des Berliner DIW, Marcel Fratzscher, ist dabei.

Endlich sollen nicht nur Politiker, sondern Wirtschaftsvertreter selber abstimmen, was sie gemeinsam umsetzen wollen. De facto passiert das längst, das Problem war eher, dass in Frankreich der Staat stärker in die Unternehmen hineinregiert.

Macron kann stärker Akzente setzen als Merkel

Während der französische Präsident ohne Rücksichten auf parlamentarische Mehrheiten seine außen- und verteidigungspolitischen Akzente setzen kann, ist die Bundeskanzlerin gelähmt. Im Bundestag gibt es nur selten Mehrheiten für europäische Initiativen, die die nationale Souveränität eingrenzen könnten. Das gilt nicht nur in der Wirtschaft und bei den Finanzen, sondern auch in der Verteidigungspolitik.

So tut sich ein Jahr nach Vertragsunterzeichnung zwischen Frankreich und Deutschland auf dem Gebiet der immer engeren europäischen Kooperation (ever closer union) wegen der deutschen Bremser nur wenig, während die Bundeskanzlerin in einem viel beachteten „Financial Times“-Interview genau dies für wichtig erklärt.

Der britischen Zeitung gegenüber bedauert sie zwar den britischen EU-Exit, schreibt aber ihren eigenen Landsleuten indirekt ins Hausaufgabenheft, was die im Gegensatz zu Frankreich nicht wahrhaben wollen: dass Europa auf absehbare Zeit nicht militärisch eigenständig sein kann, aber gerade deswegen eine „europäische Struktur der militärischen Zusammenarbeit braucht … als eine wichtige Säule der Nato“. Die Kanzlerin treibt die zögernde eigene Wirtschaft zu einer eigenen Entwicklung von Chips, von Batterien und großen Cloudunternehmen wie Google oder Amazon.

Wunsch und Wirklichkeit

Was Merkel beschreibt, ist jene hard power, ohne die sich die soft power Europas nicht aktivieren lässt. Die Libyen-Konferenz ist ein seltenes Beispiel dafür, dass Deutschland nur als Makler gefragt ist. Gerade im Blick auf Afrika und das Unterbinden von Fluchtbewegungen wird es ohne die von Frankreich angemahnte militärische Intervention nicht gehen.

Nimmt man das sehr direkte und für deutsche Ohren manchmal unbequeme Merkel-Interview zusammen mit den Ambitionen des Vertrags von Aachen, hat man eine schöne Beschreibung der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Kombiniert man das mit einer Interviewäußerung des polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki, der sich im Interesse Europas eine engere Zusammenarbeit von Paris, Berlin und Warschau wünscht, hat man den Handlungsrahmen, der auszufüllen ist.

Am Dienstag trafen sich immerhin zum ersten Mal seit 2016 die Europa-Staatsminister Deutschlands, Frankreichs und Polens zum Austausch. Trotzdem: Beim Vertrag von Aachen ist noch viel Entwicklungsraum nach oben. Für Deutschland.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false