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Ein jesidisches Mädchen sitzt auf einem Esel. Eine große Gruppe von Jesiden flüchtet vor den Terroristen des "Islamischen Staats" aus dem Irak über die Grenze nach Syrien.

© rtr

Drohender Völkermord im Irak: Deutschland ist in der Pflicht, den Verfolgten zu helfen

Es gibt viele Ausreden, sich nicht einmischen zu müssen. Aber angesichts des drohenden Völkermords an Jesiden und Christen im Irak sind die Zeiten des deutschen Ohnemichels vorbei. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die Lage ist klar, furchtbar, dramatisch. Im Frühling 2013 trat im syrischen Bürgerkrieg zum ersten Mal die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ (IS) in Erscheinung. Schnell wuchs sie an, wurde radikaler und barbarischer. Selbst den nicht gerade zimperlichen Kämpfern von Al Qaida und Al Nusra waren die IS-Krieger zu brutal. Die Dschihadisten eroberten weite Teile Syriens und zogen in den Irak weiter. Inzwischen sind mindestens eine halbe Million Menschen vor ihnen auf der Flucht. Verfolgt werden vor allem Christen und Jesiden, aber auch schiitische und moderate sunnitische Muslime. Die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen warnen vor einem Völkermord. Dass jetzt schon massenhaft Massaker verübt werden, bezweifelt keiner. Was tun?

Vor einer Antwort ist es notwendig, ein paar Sätze aufzulisten, die in Diskussionen dieser Art gerne fallen. Sie sind beliebt, weil sie wie ein Standpunkt klingen, ohne einer zu sein. Sie sind überflüssig, weil sie nichts zur Lösung des Problems beitragen. Als da wären: „Schuld an allem haben die Kolonialmächte, weil sie in der Region künstliche Grenzen gezogen haben.“ Mag sein, ändert nichts. „Schuld an allem haben die Amerikaner mit ihrem Irakkrieg.“ Mag sein, ändert nichts. „Man hätte die syrischen Rebellen frühzeitig bewaffnen sollen.“ Mag sein, ändert nichts. „Wer die Dschihadisten mit Waffen bekämpft, erzeugt neue Gewalt.“ Ist das ein Plädoyer dafür, Genozide geschehen zu lassen? „Kriege lösen keine Probleme.“ Manchmal lösen keine Kriege auch keine Probleme. „Bloß keine Waffen liefern, die gibt’s genug in der Region.“ Leider sind sie falsch verteilt.

Jede Art der Hilfe wird begrenzt sein

Was also tun? Die bittere erste Einsicht lautet: Jede Art Hilfe wird begrenzt sein. Amerika, die Nato, Europa – niemand hat den Willen und die Kapazität, die Region durch eine längerfristige militärische Intervention zu befrieden. Die Misserfolge in Afghanistan und seit dem Irakkrieg schrecken ab. Ein gewisses Maß an Chaos, Gewalt und Terror werden wir daher aushalten müssen. Syrien und der Irak könnten als Staaten gar zerfallen, ohne dass die Entwicklung von außen beeinflussbar wäre.

Es bedarf einer neuen Koalition der Stabilität - auch mit Iran und Saudi-Arabien

Zweitens bedarf es einer neuen Koalition der Berechenbarkeit und Stabilität, damit der Funke des Fanatismus nicht weiter überspringt. Zum inneren Ring dieser Koalition zählen die Türkei, Kurdistan, Jordanien, Israel, zum äußeren Ring auch extrem antagonistische Anrainer wie Iran und Saudi-Arabien. Die Erhaltung staatlicher Strukturen ist ein höheres Gut als der Export revolutionär-religiöser Ideologien: Es ist höchste Zeit, mit dieser Botschaft auf die Regenten in Teheran und Riad einzuwirken.

Drittens gehört zur Koalition der regionalen Stabilität auch die Unterstützung der im Nordirak lebenden Kurden. Sie schultern derzeit die größte humanitäre Last und tragen die Hauptverantwortung des militärischen Widerstands gegen die Dschihadisten. In enger Abstimmung müssen Nato und EU zügig entscheiden, wer den Kurden wie hilft. Es geht nicht um Wochen, sondern um Tage.

Auch Deutschland steht in der Pflicht

Deutschland darf da nicht abseits stehen. Vor fast genau 20 Jahren, im Juli 1994, hat das Bundesverfassungsgericht den Einsatz der Bundeswehr auch außerhalb des Nato-Gebietes („out of area“) grundsätzlich für rechtens befunden, gekoppelt freilich an die Zustimmung des Parlaments. Das Urteil galt als historisch. Das von den Vereinten Nationen formulierte Prinzip der Schutzverantwortung wiederum verpflichtet zum aktiven Beistand akut bedrohter Völker und Religionsgemeinschaften. Auch Deutschland ist in dieser Pflicht.

Wer grobes Unrecht verhindern will, riskiert, Schuld auf sich zu laden

Das zu erkennen und zu akzeptieren, ist weit wichtiger als der Detailstreit darüber, ob nun ausschließlich Nahrung, Medikamente, Zelte und nicht tödliche Rüstungsgüter geliefert werden sollen oder auch Waffen. Nötig sind das eine wie das andere. Die Zeiten des Ohnemichels jedenfalls, der sich von seiner globalen Verantwortung am liebsten freikaufte, sind vorbei. Wer grobes Unrecht verhindern will, riskiert, Schuld auf sich zu laden. Wer es gar nicht erst versucht, macht sich schon jetzt schuldig.

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