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Die Quadriga im Lärmgewitter: Auch diesmal steigt die große Silvesterparty am Brandenburger Tor.

© imago images/POP-EYE/ Ben Kriemann

Die Stille vor dem Böllerschuss: Berlin ist im Off-Modus – das tut uns allen gut

Die Hauptstadt ist still wie selten, bevor die Silvesterpartys steigen. Über die Ruhe vor dem Sturm und die wohltuenden und die trügerischen Seiten der Stille.

Ein Kommentar von Christiane Peitz

Berlin ist im Off-Modus, noch. Auf den Straßen geht es ungewöhnlich ruhig zu, zwischen den Jahren ist die Hauptstadt still wie sonst nie. Auch anderswo sinkt der Lärmpegel.

Die Weihnachtsmärkte sind abgebaut, das politische Berlin mit seinem Ampel-Getöse macht Pause, viele Menschen gönnen sich ein paar Tage Ruhe, ein Detox auch vom klingelnden, brummenden Handy und dem Plingpling der Push-Nachrichten. Was du heute kannst besorgen, das verschieb getrost auf morgen.

Und an Silvester, klar, dreht Berlin wieder auf, in diesem Jahr ganz besonders. Was die Stille vor den Böllerschüssen umso kostbarer macht, auch wenn sie von Probe- und Ungeduldsknallern unterbrochen wird.

Stille tut schon deshalb gut, weil sich die Ohren schwerer verschließen lassen als die Augen. Dem Lärm der Welt sind wir besonders schutzlos ausgesetzt, weshalb er schnell als Belästigung gilt.

Kirchenglocken bringen es auf 70 Dezibel

Rasenmäher und die an Weihnachten omnipräsenten Kirchenglocken bringen es auf etwa 70 Dezibel, mit gesundheitsschädlichen Folgen. Umgekehrt sinkt bereits nach wenigen Minuten Ruhe der Blutdruck, neue Gehirnzellen gedeihen besonders gut. Denn die Stille stimuliert den Hippocampus, jene fürs Gedächtnis und fürs Lernen zuständige Hirnregion. „Zauber der Stille“ heißt Florian Illies’ neues Buch über den Maler der Stille, Caspar David Friedrich, das an Weihnachten gerne verschenkt wurde.

Stille macht klug. Dass sie Konzentration, Introspektion und Kreativität fördert, während im Lärm Stresshormone ausgeschüttet werden – das gilt für den städtischen Organismus womöglich genauso wie für den von uns Menschen. Gelegentlich innehalten im Tagesgeschäft und in der Debatte, statt schnell meinungsstark zu kontern; mal abwägen, zuhören, vielleicht sogar zögern, es würde den politischen Streit produktiver machen.  

Stille ist Luxus. Zu gerne würde man sie jenen gönnen, denen sie in diesen Wochen und Monaten verwehrt ist. Wer in Kiew lebt, in Israel, in Gaza, erlebt Luftalarm, Gewehrsalven, Bodenoffensiven, sehnt sich nach ungestörter Nachtruhe. Krieg ist oft ohrenbetäubend, ein auch akustischer Terror.

Eine leer geschossene Feuerwerksbatterie liegt zwei Tage vor dem Jahreswechsel in einem Hinterhof.

© dpa/Sebastian Gollnow

Manch einer mag die Silvesterknaller hierzulande schon deshalb nicht, weil sie an die Explosionsgeräusche von Bomben und Granaten erinnern. Es gehört eine gute Portion Verdrängung dazu, sich den Spaß an der Pyrotechnik deshalb nicht nehmen zu lassen.

Die Berliner Polizei denkt darüber nach, sich in der Silvesternacht mit schrill aufjaulenden Martinshörnern zurückzuhalten. Zumindest an den Hotspots, um potenzielle Randalierer dort nicht unnötig zu provozieren. Aber die Stille ist keineswegs automatisch ein Beruhigungsmittel oder gar ein Friedensgarant.

Sie kann ein Menetekel sein, eine trügerische Ruhe vor dem Sturm, die schockstarre Totenstille nach grausamer Schlacht. Der Schweigeminute als Symbol für kollektive Anteilnahme gehen Leid, Schmerz und Tod voraus. Etwas, das uns die Sprache verschlägt.

Die Stille kann auch brutal sein

Manchmal ist die Stille aber auch selbst brutal, eine aggressive Form der Kommunikation, wie zuletzt im dröhnenden Schweigen vieler Kulturschaffender und linker Gruppen zum Hamas-Terror gegen Israel deutlich wurde. Stille kann schließlich bedeuten: Ich lasse dich im Stich, strafe dich mit Missachtung, rede nicht mehr mit dir.

Randale in der Silvesternacht in Kreuzberg und Neukölln vor einem Jahr. Ein Polizist steht vor einer brennenden Barrikade aus Mülltonnen und Mietrollern an der Kreuzung Urbanstraße / Graefestraße.

© Christian Mang/Christian Mang

Wer einsam ist, der sehnt sich eher nach hörbaren Zeichen der Anwesenheit und der Aufmerksamkeit als nach der Abwesenheit von Lärm. Und Friedensverhandlungen sind ohne wortreichen Austausch nicht denkbar.      

Mit der Stille im Leben ist es wie mit der Stille dieser Tage in Berlin. Als Pause ist sie unverzichtbar, vergleichbar der Stille in der Musik, die Raum schafft für Nachhall und Neubeginn, fürs Ausschwingen und Aufschwingen.

Zum Rhythmus der Großstadt gehört zwischenzeitliche Stille genauso wie der Silvestertrubel am Brandenburger Tor, die alltägliche urbane Vitalität und das Stimmengewirr der Demokratie. Was lebt, macht Krach: Meinungsfreiheit und -vielfalt sind ohne einen gewissen Geräuschpegel erst recht nicht zu haben.

Mehr Zen, weniger Stress, der Plan gehört zu den häufigsten guten Vorsätzen fürs neue Jahr. Wie die meisten anderen Vorsätze ist er schnell wieder vergessen. Ein Grund mehr, die Reststille vor Silvester noch ein paar Stunden zu genießen.

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