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Chlor oder nicht Chlor - spielt diese Diskussion die Rolle, die ihr zugewiesen wird?

© dpa

Streit um TTIP: Deutsche denken anders - ihre Nachbarn auch

In Deutschland haben die Kritiker des Freihandels mit den USA Zulauf und sehen sich schon auf der Siegerstraße. Dabei sind sie in Europa nur eine kleine Minderheit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Öffentliche Meinung in Europa ist wie eine Wundertüte. Die 28 Mitgliedsnationen haben unterschiedliche Sorgen. Und unterschiedliche Meinungen, was gut oder schlecht ist. Im Eurobarometer nennen Deutsche Zuwanderung und öffentliche Schulden als größte Probleme, die Schweden Arbeitsmarkt und Bildung, die Litauer Inflation und Arbeitslosigkeit, die Malteser Zuwanderung und Umwelt, die Niederländer das Sozial- und Gesundheitssystem.

Unter den Altmitgliedern zeigen Iren und Luxemburger eine besonders positive Einstellung zur EU, unter den Neuen Polen und Litauer. Österreicher und Zyprioten gehören üblicherweise zu den Grantlern in EU-Fragen.

Eine europäische Öffentlichkeit gibt es in der Realität noch immer nicht – trotz 22 Jahren Binnenmarkt und der Vergemeinschaftung wichtiger Politikbereiche. Europas öffentliche Meinung ist die Summe aus 28 nationalen Stimmungslagen. Und die stellen das größte Volk, die Deutschen, immer wieder vor Überraschungen, im Guten wie im Schlechten. Die Ängste, dass unser Land sich mit dem Ruf nach Finanzdisziplin in der Eurozone unbeliebt macht, erweisen sich als überzogen. Selbst die Griechen, das zeigten Umfragen wiederholt, haben mehr Vertrauen zu Kanzlerin Merkel als zu ihrer eigenen Regierung.

Beim Transatlantischen Wirtschaftsabkommen (TTIP), über das die EU und die USA seit Sommer 2013 verhandeln, ist es umgekehrt. Gegner in Deutschland verbreiten den Eindruck einer breiten Skepsis in Europa. In Wahrheit sind sie eine kleine Minderheit.

Große Mehrheiten für ein Abkommen mit den USA in 25 von 28 Staaten

In 25 der 28 EU-Staaten gibt es große Mehrheiten für TTIP, ergab das jüngste Eurobarometer. In 20 Staaten sogar superklare Mehrheiten von über 60 Prozent. Nur in drei Staaten ist das anders: In Deutschland liegen Befürworter und Gegner annähernd gleichauf (39 zu 41 Prozent), ebenso in Luxemburg (40 zu 43); allein in Österreich (39 zu 53) haben die Gegner deutlich die Nase vorn. Warum die Deutschen bei TTIP so weit vom EU-Durchschnitt (58 Prozent dafür) abweichen, ist vielen Beobachtern ein Rätsel.

Von der Interessenanalyse her hatten Beobachter im EU-Ausland angenommen, den Deutschen sei bewusst, dass sie als Exportnation den größten Nutzen von mehr Freihandel haben. Die Erwartung, dass die Deutschen ökonomisch denken, hatte sich freilich schon bei der Osterweiterung der EU als irrig erwiesen. Auch damals war die Skepsis in Deutschland mit am größten. Das änderte freilich nichts daran, dass die Deutschen zu den großen Gewinnern der Erweiterung wurden.

Spielt Antiamerikanismus eine Rolle?

Es liege an der NSA-Affäre, die zeitlich parallel zu den TTIP-Verhandlungen begann, vermuten viele Beobachter. Und an einem untergründigen Antiamerikanismus; für den seien die Deutschen empfänglicher als andere EU-Nationen. Die TTIP-Skeptiker weisen das von sich: Antiamerikanisch? Wir doch nicht!

Umgekehrt wagen deutsche TTIP-Gegner gerne die These, sie seien eine Avantgarde und die Öffentlichkeit hier generell wacher und kritischer als anderswo; die anderen Europäer würden auch noch entdecken, was für ein bedrohliches Vorhaben das Abkommen sei. Das empfinden andere Europäer als arrogant. In den Niederlanden (74 Prozent pro TTIP), Dänemark (71) und Schweden (59) seien die Gesellschaften schon staatskritisch gewesen, als die Deutschen noch den Untertanengeist pflegten. Vielmehr betrachteten sie als traditionelle Seefahrernationen das Ziel des Freihandels nicht so misstrauisch.

Chlorhühnchen sind weniger bedenklich als Salmonellen-Geflügel

Viele EU-Partner überrascht allerdings, welche Aspekte an TTIP die Gemüter in Deutschland bewegen: Chlorhühnchen, Investitionsschutz, Herkunftsbezeichnungen für Lebensmittel. Oft würden die Fakten verdreht. Medizinisch gesehen ist ein Chlorhühnchen weniger bedenklich als europäisches Salmonellen-Geflügel. Überhaupt gibt es in Europa mehr Lebensmittelskandale als in Amerika. Und der Investitionsschutz über private Schiedsgerichte ist keine neue Idee, die die USA der EU gegen deren Willen aufzwingen. Das Instrument wurde vielmehr von Deutschen erfunden und hat sich im Welthandel seit Jahrzehnten gut bewährt.

Die deutsche Debatte arbeitet sich zu sehr an den USA ab. Wir sollten neugieriger sein, was andere Europäer als gut oder schlecht an TTIP empfinden, sollten mit Dänen, Franzosen, Iren, Italienern und Spaniern diskutieren. Am Ende wird Europa den Vertrag gemeinsam annehmen oder ablehnen. Es wäre ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg zu einer europäischen Öffentlichkeit.

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