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Schmaler Grat: Ist die Beschränkung des Rederechts ein Maulkorb oder vielleicht doch sinnvoll?

© dapd

Kontrapunkt: Bundestag muss das Rederecht beschränken

Erst kam der große Aufschrei, dann wollte es keiner gewesen sein. Tatsächlich kommen Abweichler heutzutage öfter zu Wort als je zuvor. Deshalb muss das Parlament das Rederecht auf ein Maß begrenzen, das nicht die Mehrheitsverhältnisse umkehrt.

Von Robert Birnbaum

Vielleicht haben die Piraten ja wirklich recht, und mit dem deutschen Parlamentarismus alter Schule geht es dem Ende zu. Anders ist die tagelange hocherregte Debatte über eine geplante Neuregelung des Rederechts im Deutschen Bundestag jedenfalls nur schwer zu begreifen. Altgediente Abgeordnete warnen vor „Entmündigung des Parlaments“! Erfahrene Parlamentarier wettern wider einen „Maulkorb-Erlass“! Noch ein paar Tage länger, und ein ausgedienter Altschriftsteller hätte über die Wiederkehr von Weimar fantasiert, wahlweise der DDR.

Was für ein Unfug! Aber der Reihe nach. Erstens also: Die Sache selbst. Die Fraktionsgeschäftsführer der Fraktionen (auch solche, die sich heute partout nicht mehr daran erinnern mögen) haben vor Ostern gemeinsam eine Neuregelung des Rederechts vereinbart. Der konnten alle sehr guten Gewissens zustimmen, weil sie darauf hinauslief, die Redemöglichkeiten von Abweichlern über das seit jahrzehntelang übliche Maß hinaus – das nämlich quasi bei Null lag - auszuweiten: Drei Minuten, in der Plenardebatte selbst und nicht bloß hinterher. Ziel der Aktion war es, das Rederecht der Dissidenten in eine Form zu gießen, die es nicht der reinen Willkür eines Parlamentspräsidenten überlässt, wem und wann er das Wort erteilt. Nur am Rande sei vermerkt, dass auch gewisse Oppositionsparteien ausgeprägtes Interesse an einer solchen Regulierung hatten. Man kennt sich dort aus mit Gewohnheitsabweichlern.

Wie dieses an sich also sinnvolle, ja wohlmeinende Unterfangen in der öffentlichen Debatte zum Zensurversuch finsterer Fraktionseinpeitscher umgedeutet wurde, wäre noch mal eine Sittenstudie über Feigheit, Populismus und Trittbrettfahrerei wert. Aber bleiben wir bei, zweitens, dem grundlegenden Problem. Viele tun jetzt so, als hätte Gefahr gedroht, dass Abweichler nicht zu Wort kommen. Sie kommen aber zu Wort, täglich, reichlich, manche finden: überreichlich. Keine Talkshow zum Euro ohne mindestens Frank Schäffler von der FDP, ersatzweise Wolfgang Bosbach von der CDU. Keine Zeitung, die nicht jedem neuen Fall von Dissidenz bereitwillig ihre Titelseite räumt. „Übergroße Mehrheit für Beschluss“ ist halt keine Meldung, „halbes Dutzend gegen Beschluss“ liegt nahe an der Sensation.

Nie in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus ist jeder einzelne Abweichler derart umfassend zu Wort gekommen wie heutzutage. Nie zuvor war der Abweichler auch so sehr von positivem Robin-Hood-Image umweht, und zwar völlig unabhängig davon, ob er gute Argumente hat oder bloß querulatorische Neigungen. Man sollte allmählich darüber nachdenken, ob in dieser elitären Heldenverehrung nicht eine viel größere Gefahr für die Demokratie steckt als in der angeblichen Unterdrückung von Abweichlern. Demokratie lebt von Mehrheiten. Wer mit der Mehrheit stimmt, ist kein doofes Schaf am Gängelband des Fraktionsvorsitzenden, sondern mindestens so ein guter Demokrat wie der Andersdenkende.

Tatsache ist jedenfalls, dass in dem Gesamtsystem politischer Debatte jede Meinung sich Gehör verschaffen kann, ja die abweichende Meinung sogar noch leichter als der Mainstream. Das Parlament ist in diesem System ein wichtiger, aber längst nicht mehr der einzige Ort der Meinungs- und Willensbildung. Auch dort muss der Abweichende sich äußern können – in der Fraktion, in den Ausschüssen, auch im Plenum. Aber der Vorrang, den das mediale System aus sehr eigensüchtigen dramaturgischen Motiven dem Dissidenten einräumt, zählt im Parlament nicht. Demokratie, wir wiederholen es, ist die Organisation von Mehrheiten. Deshalb darf, ja muss der Bundestag das Rederecht des Abweichlers auf ein Maß begrenzen, das nicht die Mehrheitsverhältnisse umkehrt. In der Talkshow ist das in der Regel umgekehrt. Aber deshalb entscheiden ja auch nicht Talkshows über unser Leben, sondern ein langweiliges, bürokratisches, schwerfällig um korrekte Verfahren ringendes Parlament.

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