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Riskantes Unternehmen: Filme von Newcomern im Wettbewerb und Starrummel auf dem roten Teppich.

© dpa

Zum Abschluss der Filmfestspiele: Berlinale kann ungemütlich sein - zum Glück

Deutschland ist keine Filmnation. Aber zehn Tage im Februar ist das anders. Ein Lob der vielgescholtenen Unübersichtlichkeit der Berlinale und ihrer zahlreichen Parallelwelten.

Das Bild vom ersten Festivaltag geht einem nicht aus dem Kopf. In der Vip-Lounge nach der Eröffnungsgala stehen Innenminister Thomas de Maizière und Asylbewerber Nazif Mujic, der bosnische Bärengewinner vom Vorjahr, wenige Meter voneinander entfernt. Ein Repräsentant der westlichen Demokratie trifft an der Champagnerbar ein Opfer der Roma-Diskriminierung in Osteuropa, Glamour meets Asyldebatte, Filmkunst trifft Politik. Wer weiß, ob sie miteinander geredet haben. Aber so oder so ist es das, was die Berlinale im Innersten zusammenhält. Sie eröffnet Räume, schafft Orte für Begegnungen, für Kollisionen und Koalitionen.

Es kann durchaus ungemütlich werden, wenn zusammenkommt, was vermeintlich nicht zusammengehört – zum Glück. In der Diskussion nach dem Dokumentarfilm über den Dichter und Stasi-Spitzel Sascha Anderson ging es hoch her, später wurden der Verräter und die Verratenen von einst gemeinsam in der Kneipe gesichtet. Oder die Arabellion-Dokumentation „The Square“, die ebenfalls auf dem Festival lief: Sie zeichnet nach, wie aus den einstigen Kombattanten auf dem Tahrir-Platz in Kairo Gegner geworden sind. Aber im Film hören sie nicht auf, miteinander zu streiten.

China? Da boomt der Markt, da ist die Welt überhaupt nicht in Ordnung, da tanzt der Bär

Die Berlinale behelligt einen mit unangenehmen Fragen. Der Goldene Bär für einen chinesischen Noir-Krimi, der die mörderische Kehrseite des fernöstlichen Turbokapitalismus ins Bild rückt, und gleichzeitig die chinesische Luxusmarke Tesiro als Festival-Sponsor – geht das zusammen? Alle liebten Richard Linklaters Familien-Langzeitbeobachtung „Boyhood“, die Jury hat sich trotzdem für China und Asien als Hauptgewinner der 64. Berlinale entschieden. Eine bemerkenswerte Setzung, ein Signal. Es besagt, schaut nach China, da boomt der Markt, da ist die Filmkunst quicklebendig, da ist die Welt überhaupt nicht in Ordnung, da tanzt der Bär.

Die Berlinale, das sind bekanntlich viele Festivals, ist unübersichtlich wie kein anderes Filmfest der Welt. Riesiger Publikumsandrang mit neuem Zuschauerrekord, die ganze Stadt wird bespielt, von der Markthalle 9 bis zur Philharmonie, von der JVA Tegel bis zum schick renovierten Zoo-Palast. Die schiere Größe des Mammut- Events wurde auch dieses Jahr erneut kritisiert, ist einfach zu viel für den Kritiker, der in Cannes oder Venedig nicht 200, sondern nur rund 50 Filme zur Kenntnis nehmen muss - und für den Festivals ja nicht in erster Linie gemacht sind. Und doch hat der Ton sich geändert. Das riskante Experiment, Debüts und unbekanntere Regisseure ins Bärenrennen zu schicken, hat manchem Film nicht gut getan, aber es wird mehr und mehr akzeptiert. Hier der Arthouse-Wettbewerb, dort der Hype um Clooney und Co.: Wo, wenn nicht in Berlin, gibt es genug Platz für diese Parallelwelten.

Die Bilderwelt ist globalisiert. Aber es erwächst eine großartige Vielfalt daraus

Filme sind Realität in der Möglichkeitsform. Sie nehmen Geschichte und Gegenwart auseinander und setzen sie neu zusammen. Da spielt ein Western à la Tarantino in der Wüste Gobi, und ein Straßenkinder-Drama wie „Jack“ ist nicht in Mumbai angesiedelt, sondern im Herzen Berlins. Die Parallelwelt der Bilder ist globalisiert, weltweit bedient man sich der gleichen Genres, Fantasien, Visionen. Dieses Jahr war es besonders interessant zu sehen, welch großartige Vielfalt daraus erwachsen kann.

Ein kleines Beispiel nur: Musik von Johann Sebastian Bach war nicht nur in Lars von Triers "Nymphomaniac" zu hören, sondern auch in einem kanadischen Essayfilm über Arbeiter in Fabrikhallen und Werkstätten. Die Arie "Ich habe genug" erklang in "Top Girl" mit Julia Hummer als Berliner Sexarbeiterin, Bachs "Air" wiederum in "Night", dem chinesischen Underground-Film à la Fassbinder über einen Stricher im Rotlichtbezirk - der Regisseur ist 21. Und in Dietrich Brüggemanns Erzkatholizismus-Studie "Kreuzweg" gelten Bach-Choräle als die einzige von der Priesterschaft erlaubte, nicht "satanisch beeinflusste" Musik. Kulturell ist die Welt vereint und zugleich denkbar disparat: Bach und chinesische Karaoke-Schlager, Bach im tosenden Lärm metallverarbeitender Maschinen - auf der Berlinale konnte man seine Musik neu entdecken.

Deutschland ist keine Filmnation, das internationale Autorenkino hat es den Rest des Jahres hier schwer. Am Publikum liegt es nicht: Zehn Tage im Februar ist unersättlich neugierig auf die Bilder der anderen. Wäre doch gelacht, wenn für die 355 übrigen Tage im Jahr nichts davon übrig bleibt.

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