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Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün hatte mit Wind, Wetter und Bürokraten zu käpmfen.

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MEINE Heimat: Auf mein Kreuz ist kein Verlass

Wofür die Parteien stehen, ist zu einem Einheitsbrei verschwommen. Auf dem Basar der Möglichkeiten kann man nur noch das kleinere Übel wählen. Ein Plädoyer für mehr Mut in der Politik

Zwei Sorten von Menschen kenne ich. Solche, die Menschen mögen und solche, die keine mögen. Obwohl ich mich zur ersten Sorte zähle, kann ich den Argumenten der zweiten Sorte folgen. Dann gibt es noch die mit und ohne Humor. Wobei die Spaßfreien meistens unfreiwillig komisch sind.

Wenn ich wählen kann, ziehe ich die Menschenliebhaber mit Humor eindeutig vor. Die gibt es übrigens in der Politik auch, und ich empfinde die jenseits des Parteibuchs am angenehmsten. Deshalb stelle ich mir seit geraumer Zeit die Frage, warum sich dieser Typ so selten in der Politik durchsetzt.

Bald bin ich wieder von meiner Selbstfindungsreise zurück, und mir steht eine große Entscheidung in meiner Heimat bevor. Wen soll ich bloß wählen? Worauf ich hinauswill ist, dass man die Leute in den Parteien nur im Paket mit den anderen, also jenen, denen man nicht begegnen möchte, bekommt. Dieses Ensemble wird dann durch eine Koalition noch unkenntlicher. Was also tun im nächsten Jahr? Ich bin für soziale Gerechtigkeit (SPD), kaufe meine Lebensmittel im Bio-Laden (Grüne), will nicht, dass der Staat in meinem Leben schnüffelt (FDP), lege Wert auf Familie und Werte (CDU), aber weil mittlerweile jede Partei jedem alles davon verspricht, ist der Kern ihrer Politik nur noch ein Etikett. Parteien überleben nicht, weil sie „für“ etwas sind, sondern weil sie eine eigene Ideologie haben. Auf dem Basar der Möglichkeiten kann man nur noch das kleinere Übel wählen, jeder steht bereit, sich mit jedem für ein paar Jahre ins Regierungsbettchen zu legen.

Werden die Realitäten überhaupt noch gesehen? Was nutzt eine Mindestrente, wenn ich die 40 Beitragsjahre gar nicht zusammenbekomme? Was bringt eine Energiewende, wenn die gleichen Monopole den Reibach machen dürfen? Wer glaubt denn noch daran, dass man mit dem Kaputtsparen der Südländer den Euro rettet? Und finden Sie wirklich, dass wir die beste Regierung seit der Wiedervereinigung haben? In der Nacht der Bundestagswahl 1998 habe ich vor Freude geweint, weil Gerhard Schröder Kanzler wurde. Heute kommen mir bei der Sozialdemokratie die Tränen. Wo bitteschön sind die Visionen einer offenen Teilhabegesellschaft ohne Kontrollbürokratie, ohne Neid und ohne Ausgrenzung? Es liegt an der unglaublichen Langeweile dieser Partei, dass sie nicht aus dem Umfragetief kommt. Fast jeder der Protagonisten verschweigt die andere Hälfte der Wahrheit und hält uns für so unterbelichtet, dass wir das nicht merken. Was ich vermisse, sind Positionen, an denen man sich abarbeiten kann. Ich bin nicht Mitglied einer Partei, in Hassliebe vielleicht mit einer verbunden. Aber es gibt sie noch die Kümmerer, die Engagierten, die Mutigen und die Überzeugten in den Parteien. Schon allein denen zuliebe sollten die auf der Politikbühne mehr bieten als Floskeln. Zu hoffen, dass ich wieder einknicke und aus alter Treue mein Kreuz bei ihnen mache, darauf sollten die sich diesmal nicht verlassen. Etwas mehr reiner Wein, auch wenn nur alte Schläuche zur Verfügung stehen, wäre ein guter Anfang.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Ha Ali Hoca, ha Hoca Ali“ – ob Ali Hoca oder Hoca Ali, bleibt sich gleich.

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