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Kammermusikpop am Rand der Perfektion. Claudia Gonson, Sam Davol und Stephin Merritt (von links) bringen einen ganzen Saal zum gerührten Mitsingen.

© Redferns / Burak Cingi/Redferns

Magnetic Fields im Lido: Kleine Giganten

Schrullig und schräg, aber mit den bittersüßesten Liebesliedern der Welt: Die US-Band Magnetic Fields in Berlin.

Das Singer-Songwriter-Genie Stephin Merritt sitzt wie festgewachsen auf einem Barhocker auf der Bühne des kleinen Kreuzberger Clubs Lido. Der Mann hat so viele unfassbar schöne Popsongs geschrieben, dass man ihm und seiner Band The Magnetic Fields für eines ihrer seltenen Konzerte in Berlin die größten Hallen gewünscht hätte. Doch stattdessen wurde der Auftritt kurzfristig von der geräumigeren Huxleys Neue Welt in Neukölln hierher verlegt. Und nicht einmal das beschauliche Lido kriegt die amerikanische Band ganz voll. Wahrscheinlich wird Stephin Merritt bis in alle Ewigkeit ein Gigant seiner Zunft bleiben, den nur ein paar Eingeweihte grenzenlos verehren.

Warum die Magnetic Fields nie massentauglich wurden, kann man freilich schon nach ein paar Minuten ihres Konzerts nachvollziehen. Alles an der Band ist einfach zu schrullig und schräg, um raus aus der Geheimtipp-Nische zu kommen. Allein schon die Besetzung: zwei Gitarristen, Shirley Simms an der Ukulele, einer spielt Cello, und das nicht bloß hier und da, sondern ständig, und dann drückt noch einer die Keyboard-Tasten.

Ohne Drummer und Bassisten ergibt das ein für die Popmusik ziemlich eigenwilliges Kammermusik-Ensemble. Niemand gibt einen Beat vor oder baut ein Rhythmus-Gerüst, das den vorgetragenen Songs eine stabile Basis verleiht. Und so bleiben diese immer leicht windschief und man hat ständig die leise Angst, dass sie vor den Augen und Ohren des Publikums zerbröseln könnten.

Und so etwas wie Star-Appeal hat die Band, Stephin Merritt vorneweg, natürlich sowieso nicht. Er ist ein Mann in den späten Fünfzigern mit einem ordentlichen Bäuchlein, trägt eine Trucker-Cap und ein Kleinkinder-T-Shirt mit dem Aufdruck eines Bären. Und fast das ganze Konzert über erhebt er sich nicht von seinem Barhocker, betreibt also maximale Showeinlagen-Verweigerung.

Die Besucher und Besucherinnen des Konzerts sind dennoch bald selig. Zunehmend hört man nicht nur Merritts einmalig gebrochenen Tenorgesang, der immer wieder von Shirley Simms Sopranstimme kontrastiert wird, sondern auch das Publikum, wie es mitsingt. Da erklingt etwa das seufzend schöne, grenzenlos melancholische „Papa was a Rodeo“ und der ganze Saal steigt mit ein. Das sind dann die Momente, in denen man merkt: die Magnetic Fields mögen zwar nicht wahnsinnig vielen Menschen auf diesem Planeten etwas bedeuten, den wenigen aber dafür umso mehr.

„69 Love Songs“ - das bekannteste Album der Band

Vor allem die Songs aus dem nun auch schon mehr als zwanzig Jahre alten Songzyklus „69 Love Songs“, dem bekanntesten Meisterwerk der Band, werden mit Begeisterung aufgenommen. Die Platte ist ein Dreifach-Album, ein äußerst seltenes Format, das den zweifelhaften Ruf genießt, eigentlich unverkäuflich zu sein. Es enthält, wie der Titel schon sagt, 69 Lieder, die um das große Thema Liebe kreisen.

Die schiere Fülle an ganz unterschiedlichen Nummern, die stilistisch von Country über Jazz bis hin zu Indie-Folk reichen, lässt sich mit nichts Geringerem als dem „Weißen Album“ der Beatles vergleichen. Allein schon der Lieber-zu-viel-als-zu-wenig-Gestus ist ein ähnlicher. Wie die Fab Four schien auch Merritt mit dieser Platte sagen zu wollen: in der Popmusik ist so viel möglich, weit mehr, als ihr euch das dachtet, ich zeig euch das mal. Und das einfach 69 Mal hintereinander.

Die Beatles hatten bekanntlich einen guten Humor, Merritt kann da locker mithalten. Allein wenn er sagt: „Der nächste Song heißt ,The Biggest Tits in History’“, klingt das schon komisch und noch lustiger wird es, wenn er genau über diese größten Titten aller Zeiten auch noch singt. Eine Nummer kündigt er an mit den Worten, diese sei ein Nine-Eleven-Stück und gleichzeitig ein Weihnachtslied. Und ein Lied widmet er dem ewigen Schockrocker Alice Cooper, es ist nach etwa vier Sekunden schon wieder zu Ende.

Stephin Merritt ist ein schwuler Singer-Songwriter. Man hört immer wieder von Heteros, die seine „69 Love Songs“ entdecken, sich in diesen komplett verlieren, das Album wie einen Schatz an den Liebsten oder die Liebste weitereichen und erst später feststellen, dass hier aus einer queeren Perspektive das wohl wichtigste Thema der Menschheitsgeschichte durchdekliniert wird.

Das Publikum im Lido weiß zum Großteil freilich Bescheid und ist schon deutlich queer, viele schwule und lesbische Pärchen schauen sich während des Konzerts tief in die Augen. Viele stehen aber auch ganz für sich alleine herum, ganz offensichtlich sind auch sie wegen der Liebe gekommen. Der Liebe zu diesen Popsongs am Rande der Perfektion. Andreas Hartmann

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