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Was bleibt am Ende des Lebens? Im Stück „Everywoman“ von Milo Rau und Ursina Lardi an der Berliner Schaubühne (Deutschlandpremiere im Oktober 2020) geht es um alles: das Leben, den Tod, um Einsamkeit und Gemeinschaft.

© Foto: Schaubühne Berlin / Everywoman / Milo Rau und Ursina Lardi / Foto: Armin Smailovic

Machen, dazwischentreten, eingreifen: „Intervenierende Kunst muss stören“

Ein neuer Sonderforschungsbereich beschäftigt sich mit Fragen der Verflechtung von Kunst, Politik und Gesellschaft. Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff.

Von Pepe Egger

Herr Brokoff, wie unterscheiden sich die intervenierenden Künste, mit denen sich der Sonderforschungsbereich beschäftigen wird, von der engagierten Kunst oder politischen Kunst des 20. Jahrhunderts?

Das ist eine spannende Frage, die man gar nicht auf Anhieb mit klaren Kriterien beantworten kann. Natürlich setzt Intervenieren – also ein Eingreifen – ein Engagement voraus. Aber mit dem Verb „intervenieren“ ist eher ein Prozess in den Fokus gerückt, ein Vorgang, während Engagement eine Haltung meint. Wenn wir im Bereich der zeitgenössischen Kunst von Intervenieren sprechen, dann meinen wir: ein Machen, ein Dazwischentreten, ein Eingreifen. Wir fragen weniger: Sind die Künstlerinnen und Künstler engagiert? Sondern mehr nach Art und Weise des künstlerischen Intervenierens.

Was ist denn mit dem Begriff der Intervention gemeint, von dem sich das Intervenieren ableitet?

Kunst als Praxis und als Eingreifen ist eine gesellschaftliche Verrichtung. Aber natürlich ist der Begriff des Intervenierens und der Intervention kein unbelasteter und kein unproblematischer Begriff. Er geht ja unter anderem zurück auf eine militärische Bedeutung: das kriegerische Intervenieren von Staaten in anderen Staaten. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren, weshalb es schwierig ist, den Begriff unbefangen zu verwenden. Dass die Künste sich einmischen, dass Künstlerinnen und Künstler eingreifen und gesellschaftlich aktiv werden, ist schön und gut, aber Intervention bedeutet immer auch, dass hier etwas gegen Widerstände getan wird, etwas, was sich gegen den Willen anderer richtet.

Ab wann überschreitet eine solche Kunstpraxis die Grenze zum Aktivismus? Und wie unterscheidet sich intervenierende Kunst von politischem Aktivismus, der einfach sagt: Ich bin Kunst?

Das wird eine der Hauptfragen unseres Sonderforschungsbereichs sein: Wie lässt sich der politische Aktivismus von künstlerischem Aktivismus unterscheiden? Ein Beispiel, an dem man das diskutieren könnte, ist das „Zentrum für Politische Schönheit“: Wenn dessen Mitglieder auf dem Nachbargrundstück des AfD-Politikers Björn Höcke eine Installation aufbauen. Oder die Black-Lives-Matter-Bewegung: Was ist daran künstlerisch, was politisch? Was ist politische Geste, und was ist für sich genommen eine künstlerische Aktion? Manchen Akteurinnen und Akteuren ist es völlig gleich, ob die Aktionen, die sie durchführen, als künstlerisch gewertet werden oder nicht. In manchen Ländern aber ist das wichtig, weil der Verweis auf die künstlerische Freiheit bestimmte politische Aktionsformen gesetzlich schützt.

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff, Sprecher und Teilprojektleiter Sonderfoschungsbereich (SFB) „Intervenierende Künste“

© Foto: : Jürgen Morgenroth

Ist heute alle Kunst intervenierend?

Eine Kunst, die in der Tradition der Avantgarde steht, wird eher zu aktivistischen, also intervenierenden Tendenzen und Aktionsformen neigen. Interessant ist aber, dass ein Intervenieren – oft als Unterbrechen – ein Verändern nicht nur gesellschaftlicher Strukturen, sondern von Wahrnehmungsstrukturen ist. Das muss nicht notwendigerweise über aktivistische Artikulationsformen laufen. Es kann auch sein, dass eine Kunstform erst einmal gar nicht mit dem Anspruch daherkommt zu intervenieren, aber auf eine versteckte, indirekte, nicht programmatische Art viel mehr Veränderung bewirkt. Und zwar ohne den Interventionsbegriff im Mund zu führen. Für uns ist das eine der spannendsten Fragen: Nach Interventionen, Formen von intervenierenden Künsten zu suchen, die nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar sind. Wir nennen das intransitive Interventionen. Die berühmte Formel „Du musst dein Leben ändern“ aus Rilkes Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ wird häufig missverstanden – so, als ob die Künste die Menschen dazu auffordern oder gar nötigen müssten, ihr Leben zu ändern. Stattdessen geht es darum, dass Menschen in der Begegnung mit Kunst selbst zur Überzeugung gelangen, ihr Leben ändern zu müssen – und damit auch die Gesellschaft. Das wäre der feine Unterschied, der in der Beschäftigung mit den Künsten immer wieder aufs Neue herauszuarbeiten ist.

Wie werden Sie arbeiten? Welche Disziplinen sind am SFB beteiligt?

Für die Erforschung intervenierender Künste ist die Analyse von konkreten Kunstformen notwendig. Die Interventionspraxis der Künste spielt sich ja nicht im luftleeren Raum ab, sondern muss zeitlich, räumlich und auch mit Blick auf die vielfältigen Kunstgattungen eingeordnet und kontextualisiert werden. Deshalb hat unser Verbund eine disziplinenübergreifende Struktur entwickelt: Wir verbinden künstebezogene Fächer, die sich mit Bildender Kunst, Tanz, Theater, Literatur, Film, Musik und Medienkunst beschäftigen, mit den Fächern Philosophie, Geschichte, Soziologie und Kulturanthropologie. Und wir setzen bei einzelnen Forschungsprojekten auch regionale Schwerpunkte und untersuchen das Kunstgeschehen in Osteuropa, in Südamerika und in Indien. Beteiligt sind neben der Freien Universität auch die Humboldt-Universität und die Universität der Künste in Berlin sowie die Leuphana in Lüneburg und die Viadrina in Frankfurt/Oder.

Was sind für Sie herausragende, paradigmatische Beispiele für intervenierende Künste?

Ich habe das „Zentrum für Politische Schönheit“ als Beispiel genannt. Man könnte aber auch die Arbeiten des Schweizer Regisseurs und Theaterautors Milo Rau erwähnen, der notorisch die Nähe und Verflechtung von Politik, Kunst und Gesellschaft sucht. Eine Formel von gelingender, intervenierender Kunst ist: Sie muss stören, sie muss Widerstand produzieren. Eine glatte, durchlaufende Kunst wird man kaum als intervenierend bezeichnen können.

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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