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Kugelrund geschliffen: Unter dem "Abakus thc" liegen Kieselsteine verstreut.

© Roman März

Berlin Art Week: Alicja Kwade: Zerstoßene Zeit

Versuch und Ordnung: Die Berliner Bildhauerin Alicja Kwade breitet im Haus am Waldsee ihre Sonderbarkeiten mit "Monolog aus dem 11ten Stock" aus.

Da hat wohl jemand zu heftig gerechnet. Der große, hölzerne Abakus ist leer gefegt, seine Perlen liegen verstreut auf dem Boden. Tatsächlich sind das Steine, von Alicja Kwade wie früher schon die „Bordsteinjuwelen“ von der Straße aufgelesen und danach von Expertenhand veredelt. Diesmal wurden die Kiesel kugelrund geschliffen. Wie ein kleines Planetensystem ordnen sich die farblich komplett unterschiedlichen Körper auf dem Boden im Haus am Waldsee. Sie bilden fast das Entrée der ersten institutionellen Einzelausstellung der in Berlin lebenden Künstlerin. Zuvor passiert der Besucher am Eingang noch Kwades eigenwillige Skulptur „Eadem Mutatta Resurgo“ von 2013 – eine hölzerne Tür, die sich zur Spirale krümmt und so das feste System von Raum und Zeit aus den Angeln hebt.

Schließen, öffnen, einen anderen Ort betreten: Türen ordnen das Tun. Keinesfalls drehen sie sich in der Realität wie Schnecken ein, doch was heißt schon Wirklichkeit im Werk der überall gefragten jungen Künstlerin. Nach Ausstellungen in New York, der Schirn in Frankfurt und St. Gallen steht sie schon in den Startlöchern für ihre nächste Soloschau im Trafo Centre for Contemporary Art im polnischen Stettin. Den Grund für die Begehrlichkeiten von Seiten der Museen und Galerien legen die Arbeiten im Haus am Waldsee offen: Alicja Kwade, Jahrgang 1979, ist fasziniert von wissenschaftlichen Phänomenen, die unsere Idee von der Realität ins Wanken bringen – ohne dass wir es merken. Und sie setzt dieses Wissen um die Relativität aller subjektiven Wahrnehmung in wunderbare, poetische Bilder um.

Die Zeit vergeht hörbar

Kwades Vokabular ist frappierend einfach, der Aufwand oft groß, ohne dass er sichtbar wird. Alte Uhren, Spiegel, Lampen, schiefe Äste oder Steine bilden das formale Universum ihrer Sprache. Dass ein Sekundenzeiger nicht regelmäßig tickt, sondern wie in der Arbeit „Influence“ den schnelleren Zeitfluss in großen Höhen für einen Moment simuliert, um wenig später wieder Maß an der Erde zu nehmen, vollzieht sich kaum merklich. Oft braucht es Geduld, um die kleinen Manöver zu bemerken – wenn man überhaupt eingeweiht wird. Das Glas des Ziffernblatts von „Watch 1950“ etwa ist komplett verspiegelt, es bleibt das Ticken des mechanischen Uhrwerks. Ein akustisches Moment, das Kwades bildhauerisches Werk seit Jahren begleitet. Das einen irre machen kann, wenn die Zeit hörbar vergeht, ohne sich messen zu lassen.

Die Räume der Villa sind angefüllt mit solch überraschenden Momenten. „Looking glass“ von 2012 häuft pulverisierte Spiegel in einer Ecke auf. Die Skulptur „ein hocker ist ein bild“ (2015) täuscht ein Sitzmöbel vor, das sich ebenfalls nicht nutzen lässt, während der ovale Spiegel „Anwesenheit in Abwesenheit“ ein Abbild zurückwirft, dazu aber auch Atem auf seiner Oberfläche kondensieren lässt – obgleich man ihn nicht angehaucht hat. Im Erdgeschoss vom Haus am Waldsee warten Kwades jüngste „Theoretische Gebilde“, ein System aus Röhren und trichterförmigen Öffnungen, das jenen Modellen gleicht, mit denen Wissenschaftler die sogenannten Wurmlöcher im Weltall zu versinnbildlichen suchen. Die Künstlerin hat daraus eine imposante Versuchsanordnung konstruiert und das abstrakte Modell mit dem schimmernden Material Kupfer zu visuellem Leben erweckt. Ihre Skulpturen wirken wie altmodische Apparate zum Erforschen unbekannter Phänomene. Gleichzeitig machen sie deutlich, wie ungenau sie jene physikalischen Erscheinungen illustrieren, die jenseits des Vorstellungsvermögens liegen.

„Monolog aus dem 11ten Stock“, dieser Titel passt hervorragend zu einer Ausstellung über Trug und Schein der Wahrnehmung. Ausgerechnet im flachen Villenviertel installiert Alicja Kwade eine imaginäre Plattform, die den Blick von oben möglich machen will und ihn damit weitet. Dass die elfte Etage genügen könnte, um der eigenen Engsichtigkeit zu entkommen, ist natürlich Illusion. Aber immerhin ein Anfang.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 22. 11., Di bis So 11–18 Uhr

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