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Emigrantenstadl. Der Musiker und „Russendisko“-Betreiber Yuriy Gurzhi in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg.

© David von Becker

Rotfront: Yuriy Gurzhy: Wodka, Knoblauch, Party

Yuriy Gurzhy ist Mitbegründer der "Russendisko". Seine Band Rotfront bringt jetzt ein neues Album heraus, den Sommer über ist sie auf Tour. Eine Begegnung.

Vom ersten Auftritt in der Heimat ist ein Schatten unter den Augen geblieben. Yuriy Gurzhy ist gerade aus der Ukraine zurückgekehrt, mit seiner Band Rotfront hat er auf einem Festival in Lemberg gespielt. Es war das erste Mal, dass er vor seinen Landsleuten auf der Bühne stand. Ein besonderes Erlebnis in den acht Jahren, die es das Musikerkollektiv nun schon gibt.

Die Heimfahrt in dem unkomfortablen Tourbus war anstrengend, die Nacht viel zu kurz. Yuriy Gurzhy, bekleidet mit rotem T-Shirt und Cargohosen, sitzt nun daheim in Prenzlauer Berg am Küchentisch und versucht, die Müdigkeit wegzulächeln. Ein Espressokocher zischt auf dem Herd. In ein paar Stunden muss Gurzhy seinen Sohn aus der Schule abholen.

Tage wie diesen werden Yuriy Gurzhy und Kollegen in den nächsten Monaten häufiger erleben. Tage zwischen Aufgedrehtheit und Erschöpfung. Gerade haben Rotfront auf Essay Recordings ihr zweites Album veröffentlicht, zwei Jahre nach dem Debüt „Emigrantski Raggamuffin“. Am Mittwoch stellt die neunköpfige Band die neue Platte „Visafree“ im SO 36 vor, danach wird sie den Sommer über auf Tour sein. Allein im Juni stehen etliche Auftritte in Deutschland an, zudem sind Rotfront zum Glastonbury-Festival geladen. „No sleep till Berlin“ – in Anlehnung an die Beastie Boys ist das nicht nur einer der 15 Titel auf der Platte, sondern offenbar auch das Motto der Band.

An diesem Morgen klingt Gurzhys Stimme etwas heiser und rau. Trotzdem hört man ihm die Begeisterung an, wenn er über den Auftritt in Lemberg spricht. Aufgeregt sei er gewesen, erzählt der 36-Jährige. Denn obwohl er in Charkow aufgewachsen ist, im Nordosten der Ukraine, wurde in der Familie kaum ukrainisch gesprochen, sondern fast ausschließlich russisch. Bevor er die Bühne betrat, war er nicht sicher, wie das beim Publikum ankommen würde. Er streute vereinzelt russische Worte ein, im Laufe des Auftritts wurden es immer mehr. Die Zuschauer störten sich nicht daran, am Ende tanzten sie ausgelassen zur Musik von Rotfront, einem Mix aus Klezmer, Hip-Hop, Reggae, Punk und Turbopolka.

Ein paar Tage später steht Yuriy Gurzhy im Keller des „Kaffee Burger“ in Mitte, in dem Club, in dem seine Karriere als Miterfinder der legendären „Russendisko“ vor fast zwölf Jahren begann. Es riecht nach Moder und kaltem Rauch. Zwischen dem durchgesessenen Sofa und dem Mischpult ist nur wenig Platz für die Musiker, die aus Deutschland, Ungarn, Österreich und Australien stammen. Sie wollen für die bevorstehenden Konzerte proben.

An diesem Vormittag sind sie zu fünft. Nur selten kommen alle Bandmitglieder zu den Proben zusammen. Die meisten haben Familie, das macht die Terminfindung schwierig. Dorka Gryllus, die Sängerin, ist eigentlich Schauspielerin, sie war unter anderem in „Irina Palm“ und „Soul Kitchen“ im Kino zu sehen. An diesem Vormittag fehlt sie auch. Für Gurzhy ist das kein Problem. Zwischendurch wechselt er ins Falsett, übernimmt ihre Parts. Dan Freeman, der Saxophonist, muss vor Lachen losprusten.

Die Stücke des neuen Albums heißen „Vodka & Garlic“, „Sigaretta“, „Revolution Disco“ oder „James Bondski“. Titel, die nach Klischee klingen, aber mit unerwarteten Wendungen und überraschendem Tiefgang überzeugen. „Mit Klischees muss man arbeiten“, sagt Gurzhy. Er arbeitet mit ihnen, bis sie keine Klischees mehr sind. Ähnlich geht er mit Zitaten um, seine Musik ist voll davon. „Ich liebe es, zwischen den Zeilen zu lesen.“ Wer bei Rotfront genau liest, erkennt dann zum Beispiel in „Gay, Gypsy & Jew“ den jüdischen Evergreen „Hava Nagila“ und „To be young, gifted and black“ von Nina Simone. Und so scheitert auch jeder Versuch, den Stil der Band zu kategorisieren. „Unsere Musik ist eher eine Art, die Welt zu sehen. Wie ein Land, das es nicht gibt.“

Seit 16 Jahren lebt Gurzhy in Deutschland. Die Eltern – der Vater Chemiker, die Mutter Ingenieurin – zogen Mitte der 90er nach Potsdam. Gurzhy, damals 20, witterte das große Abenteuer. „Ich dachte, wenn das Leben hier nicht meinen Erwartungen entspricht, kann ich wieder zurück.“ Er blieb. Zwei Jahre später zog er nach Berlin, um an der Humboldt-Uni Amerikanistik und Germanistik zu studieren. „Zwei Semester, dann war ich fertig“, sagt Gurzhy und grinst.

Dass für Vorlesungen und Seminare kaum Zeit blieb, hatte Gründe: Gurzhy hatte zwei russische Musiker kennengelernt, er wurde Mitglied in ihrer Band. Zu einem Auftritt kam Wladimir Kaminer, damals von seinem Status als Kultautor noch weit entfernt. Die beiden kamen ins Gespräch und stellten fest, dass sie eine Leidenschaft teilten: Beide sind, bis heute, passionierte Musiksammler.

Dass Kaminer und Gurzhy mit der „Russendisko“ berühmt wurden, haben sie dem Zufall zu verdanken. Die Betreiber des Café Zapata im Tacheles luden beide ein, den Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution musikalisch zu gestalten. Kaminer und Gurzhy kamen mit selbst gebrannten CDs. Unter den Gästen waren auch die Betreiber des Kaffee Burger. Sie waren begeistert von der wilden Mischung aus russischer Volksmusik und moderner Tanzmusik. Einen Monat später hatten Gurzhy und Kaminer einen regelmäßigen Abend im Burger. Und während Kaminer sich zunehmend auf seine Karriere als Autor konzentrierte, arbeitete Gurzhy weiter als Musiker. Mit Simon Wahorn gründete er schließlich Rotfront.

Gerade wird „Russendisko“, jenes Buch, das Kaminer den ersten literarischen Erfolg brachte, verfilmt. Matthias Schweighöfer und Friedrich Mücke spielen die Hauptrollen, gedreht wird in Berlin und Babelsberg. Gurzhy steuert ein paar Stücke zum Soundtrack bei, er kann jetzt auch zu Hause arbeiten – in seinem provisorisch eingerichteten Musikstudio, das Arbeitszimmer, Bibliothek und Plattenarchiv in einem ist. Hinter dem Sofa stapeln sich Kassetten, die Schränke sind voll mit Platten und Büchern. In der Ecke steht ein alter Kassettenrekorder, wie ihn amerikanische Hip-Hopper einst zur Schau stellten, um Authentizität zu beweisen. Der Rekorder, ein Erbstück vom Großvater, ist kaputt. Aber beweisen muss Gurzhy ohnehin niemandem mehr was.

Rotfront spielen am Mittwoch, 15. Juni, um 21 Uhr im SO 36, Oranienstr. 190, Kreuzberg. Karten kosten 15 Euro.

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