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Leomhard war als Sowjet- und DDR-Experte publizistisch stets aktiv - und mit der eigenen Lebensgeschichte „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ (1955) auch Bestsellerautor.

© Imago

Historiker und Zeitzeuge: Wolfgang Leonhard mit 93 Jahren gestorben

Er war ein bedeutender Zeitzeuge der deutschen Geschichte: Wolfgang Leonhard. Nun ist der Historiker, Russland- und Kommunismusexperte im Alter von 93 Jahren gestorben.

Manchmal ist der Titel alles. Manchmal wird er zum geflügelten Wort. Wie derzeit mit dem Buch des britischen Historikers Christopher Clark, dessen Titel „Die Schlafwandler“ den gesamten Inhalt widerhallen lässt, ging es auch Wolfgang Leonhard mit „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Das Buch von 1955 beschrieb nicht nur die Historie, es schrieb selbst Geschichte. Der erst 34-jährige desillusionierte Kommunist, durch alle Mühlen der real existierenden Sowjetunion gegangen, beschrieb darin seine Wandlung vom begeisterten Kommunisten zum Sowjetkritiker und prägte mit dem Rückblick auf sein schon damals höchst turbulentes Leben die Wahrnehmung des kommunistischen Ostblocks in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland.

Es war nicht das erste Buch, das Leonhard verfasst hatte; der Erstling von 1952 bewegte sich mit dem Titel „Schein und Wirklichkeit in der UdSSR“ noch ganz im Feld der Wissenschaft, das Leonhard später gestreift, aber nicht vollends betreten hat. 1921 in Wien geboren, wuchs er im Berlin der Endzeit der Weimarer Republik auf. Die Nazis bedrohten ihn schon, bevor sie an die Macht kamen, war er doch als Zehnjähriger in die „Jungen Pioniere“ der KPD eingetreten – jener Partei, die sein Leben prägen sollte.

Seine Mutter Susanne Leonhard war Spartakistin, mit Rosa Luxemburg befreundet und KPD-Mitglied der ersten Stunde – und bereits 1925 aus der Partei wieder ausgetreten. Mit ihrem Sohn Wolfgang emigrierte sie in die Sowjetunion, was ihr bald zum Verhängnis wurde. Als Linksabweichlerin wurde sie 1936 deportiert; sie überlebte den Gulag.

Vom Akteur der Geschichte zum Chronist und Deuter

Wolfgang Leonhard ging in Moskau zunächst auf eine Schule für Emigrantenkinder, dann, nachdem deren Lehrer im Zuge des „Großen Terrors“ verhaftet und erschossen worden waren, auf eine russische Schule. 1941 wurde er wie alle Deutschstämmigen – er besaß auch die sowjetische Staatsbürgerschaft –, nach Kasachstan deportiert, konnte aber weiter auf Lehramt studieren. Bis ihn die Partei wiederentdeckte und zu einer Funktionärsschule der Komintern schickte, nach deren Auflösung 1943 er für das Nationalkomitee Freies Deutschland arbeitete. Als jüngster von zehn Kommunisten der Gruppe Ulbricht kehrte er 1945 nach Deutschland zurück, dazu ausersehen, im künftigen Jugendverband eine führende Stelle einzunehmen. Was dann später Erich Honecker vorbehalten war.

Leonhard ging jedoch innerlich auf Distanz zu Ulbrichts stalinistischen Methoden. Als Tito in Jugoslawien dem Kreml-Herrscher die Stirn bot, setzte er sich 1949 dorthin ab – um ein Jahr später in die Bundesrepublik überzusiedeln.

Was für ein Leben! Die folgenden 64 Jahre sind vergleichsweise einfach erzählt. Vom Akteur und eher Objekt der Geschichte wurde Leonhard zum Chronisten und Deuter. Das Buch von 1955 machte Furore und katapultierte den Autor in die kleine Elite der Kreml-Experten. Wer kannte damals, in der Endphase des hermetischen Stalinismus, schon die Sowjets und sprach nicht nur deren Sprache, sondern auch die der gewöhnlichen Menschen? Wolfgang Leonhard besaß diesen unschätzbaren Vorteil. Was ihn noch mehr heraushob: Er kannte die kommunistischen Funktionäre bis in deren Innerstes, verstand deren Denken, Verblendung und Verfolgungswahn, wie sonst wohl nur noch Herbert Wehner.

Den Zerfall der Sojwetunion überlebte Leonhard mehr als zwei Jahrzehnte

Bis ins höchste Alter wurde er zu unzähligen Vorträgen, Podien und Expertenrunden geladen, lehrte ab 1966 gut zwei Jahrzehnte lang den Sommer über im hervorragend ausgestatteten Studienzentrum zu Osteuropa in Yale, einer der drei Spitzenuniversitäten der USA. Es folgten Einladungen der bundesdeutschen Politik, an Regierungsdelegationen in die UdSSR teilzunehmen, später wurde er auch als Wahlbeobachter der OSZE in den Nachfolgestaaten der UdSSR tätig.

Es muss als eine ungeheure, auch bittere Ironie der Geschichte auf Leonhard gewirkt haben, dass er den Zerfall des gerade von ihm als granithart erlebten Sowjetlandes er- und um über 20 Jahre überlebte. Leonhard war durchaus kein Renegat, wie etwa Arthur Koestler, der etliche Jahre zuvor seinerseits von der kommunistischen Ideologie abgefallen war und sie nun ebenso unnachgiebig bekämpfte, wie er ihr zuvor selbst angehangen hatte. Leonhard war schlicht von jedweder Ideologie geheilt. Es genügte ihm, die kommunistische Gedankenwelt zu verfolgen und, in den sechziger und siebziger Jahren, ihre allmähliche Auflösung in verschiedenste Strömungen wie den eine Zeit lang wirkmächtigen „Euro-Kommunismus“ darzustellen. Zahlreiche Bücher, Aufsätze und Artikel waren das Ergebnis. Leonhard hatte die Hand immer am Puls der osteuropäischenGeschichte, ob kommunistisch, Perestroika-reformiert oder offen reaktionär wie unter Putin, dessen Geschichtsrevision er noch im Alter von 88 Jahren ein Buch widmete, sein letztes.

Erst im Alter erfuhr er, dass sein leiblicher Vater Russe war

Wie sehr Sowjetrussland Leonhards Leben bis ins Allerprivateste hinein geprägt hatte, ist ihm selbst erst im Erwachsenenalter bekannt geworden. Seine mit dem Dramatiker Rudolf Leonhard verheiratete Mutter Susanne war in Wien mit dem dortigen Sowjetbotschafter Bronski liiert. Bronski war wohl sein leiblicher Vater. Über ihn, der 1938 selbst ein Opfer des Stalinismus wurde, besaß Leonhard die sowjetische Staatsbürgerschaft, die seine Emigration von 1935 ermöglichte. Sein Geburtsname lautet Wladimir, erst 1945 wählte er auf Ulbrichts Ansinnen den deutschen Vornamen Wolfgang.

Am Sonntag ist Wolfgang Leonhard im Alter von 93 Jahren in einem Krankenhaus im Eifel-Ort Daun gestorben. Das nahe gelegene Manderscheid war seit Jahrzehnten sein Wohnsitz in der „alten“ Bundesrepublik, in der er schon zur Adenauerzeit heimisch geworden war. Das Bild des Pfeifenrauchers mit wehender Mähne, des lebendig formulierenden Diskutanten, des authentischen Zeitzeugen gehört zu dieser westdeutschen Republik, aus der er hinüberragte in eine Zeit, in der er selber bereits Geschichte geworden war – wie der Gegenstand seiner lebenslangen Beschäftigung.

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