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Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur": Der eiskalte Trost

„Arbeit und Struktur“ bis zum Ende: Posthum erscheint Wolfgang Herrndorfs Blog als Buch.

Ein Leidensgefährte gibt Wolfgang Herrndorf den entscheidenden Hinweis für den Umgang mit seinem Hirntumor. 13 Jahre schon lebt der ihm unbekannte Mann mit dem Glioblastom, das auch der Berliner Schriftsteller hat und das in der Regel in weniger als zwei, drei Jahren zum Tod führt. Der Mann erzählt Herrndorf am Telefon, dass er sofort nach OP und Chemotherapie wieder zu arbeiten angefangen und sich jede Rücksicht verbeten habe.

„Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur“, so schreibt es Herrndorf in seinen zunächst nur für den Freundeskreis gedachten Blog mit eben diesem Titel, der dann im Spätsommer 2010 frei zugänglich ins Netz gestellt wird.

Herrndorf kauft sich ein Moleskine, was vorher „immer eine Spur zu eitel für einen Behelfsschriftsteller wie mich“ war, und führt bis zu seinem Tod am 26. August 2013 regelmäßig Online-Tagebuch. Das erscheint nun als gedrucktes Buch – und bekommt in dieser Form und mit dem Tod als unweigerlichem Schlusspunkt noch einmal eine andere Qualität. „Arbeit und Struktur“ ist das Vermächtnis von Herrndorf, der nur 48 Jahre alt wurde; sein fünftes Buch, das viel mehr ist als ein Kranken- und Therapiebericht: ein Buch über das Schreiben und Lesen, Werkstattbericht, Erinnerungsbuch, eine literarische Autobiografie.

Allein das Intro, „Dämmerung“ übertitelt, ist eine Klasse für sich. Es enthält ein paar zum Hinknien schöne Sätze über die „erste Erinnerung an diese Welt“ im Dämmerlicht des Kinderzimmers. Damit stellt sich Herrndorf durchaus unbescheiden (aber was hatte er groß zu verlieren?) in eine Reihe mit den von ihm bewunderten Erinnerungskünstlern von Proust bis Nabokov. Und er konstatiert: „Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Volière die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.“

Mit der "Exitstrategie" beschäftigt sich Herrndorf seit seiner Diagnose

Es gibt hier viele solcher Erinnerungssequenzen, mal als Aufzählung, mal als formvollendete Prosa. Sie zählen zu den schönsten, poetischsten Momenten in diesem auch sonst so reichen Buch, das voller Takt und Offenherzigkeit, voller Gefühl, Witz und Sarkasmus, voller Hoffnung und Verzweiflung steckt. Und das als Blog ein bisschen auch die Chronik eines angekündigten Selbstmordes war.

Nachdem Wolfgang Herrndorf seinem Leben mit der Schusswaffe ein Ende gesetzt hatte, hielten sich Entsetzen und Trauer die Waage. Nur war beim typisch flüchtigen, nicht immer konzentrierten Lesen der Tagebucheinträge auch etwas in Vergessenheit geraten, dass diese Todesart für ihn früh schon festgestanden hatte: der „Psychohygiene“ halber, um „Herr im eigenen Haus“ zu bleiben, wie er das ausdrückt, parallel zu der Kontrolle über das eigene Leben, die der Blog Monat für Monat dokumentiert.

Am 20. 3. 2010, wenige Wochen nach der Diagnose und der ersten OP, notiert Herrndorf einen Traum. Darin bekommt er von den Ärzten sieben „sicher tödliche“ Valium-Tabletten, nimmt aber nur zwei davon: „Ich trinke eine Schüssel Salzwasser und weiß: Ich brauche eine Waffe.“ Im Folgenden taucht der Freitod durch Erschießen häufig auf, in Gesprächen mit Ärzten, Bekannten und Freunden. „Exitstrategie“ nennt es Herrndorf: „Voraussetzung dafür war, dass zwischen Entschluss und Ausführung nicht mehr als eine Zehntelsekunde liegen dürfe. Schon eine Handgranate wäre nicht gegangen. Die Angst vor den drei Sekunden Verzögerung hätte mich umgebracht. Medikamente mit dem langwierigen Vorgang des Schluckens und Wartens sowieso.“ Nachdem die Waffe erstanden, die Frage der Exitstrategie „gelöst“ ist, fragt er sich, warum das die Krankenkasse nicht bezahlt: „Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe.“

Und dann setzt Wolfgang Herrndorf sich an seine Romane „Tschick“ und "Sand“, getreu der Rainald-Goetz-Devise „Don’t cry! Work!“, in einem Wettlauf mit dem Tod. Auch wenn ihm, viele der Einträge machen keinen Hehl daraus, oft nach Weinen zumute war. Beide Bücher lagen lange als Manuskripte im Computer. Das eine seit 2004, tatsächlich als Jugendroman konzipiert, seltsamerweise „voll mit Gedanken über den Tod“, wie er feststellt; das andere als Krimi, aus dem später „Sand“, der sogenannte Wüstenroman wurde: „Der beginnt mit einem Mann, der ungeheure Kopfschmerzen hat, dann wird ihm der Schädel eingeschlagen, er erleidet eine Totalamnesie und unterhält sich achtzig Seiten lang mit einem Psychologen, der ihm erklärt, daß man von einem Schlag auf den Kopf keine Amnesie bekommt. Am Ende stirbt er.“

Tellkamps "Turm" ist für ihn "sprachlich verlottert"

„Arbeit und Struktur“ vermittelt eindringlich die Tragik dieses kurzen Schriftstellerlebens. Denn Herrndorf wäre ohne Hirntumor nicht der plötzlich so produktive, wie besessen arbeitende und infolgedessen so erfolgreiche Schriftsteller geworden. Schreiben wollte er immer, das tat er auch immer, nachdem sich für ihn die bildende Kunst, das Malen und das Illustrieren erledigt hatten. Von vielen auf Halde liegenden Projekten ist einmal die Rede, den Schwierigkeiten, diese zu Ende zu bringen, weil immer wieder etwas dazwischengekommen sei.

Nein, es ist nicht der Mitleidseffekt, der Herrndorf so berühmt gemacht hat, sondern sein Überbordwerfen von Skrupeln im Angesicht des Todes. Und die so entstandenen, im Abstand eines Jahres veröffentlichten zwei Romane gehören zum Besten, was es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in den vergangenen zehn, 15 Jahren gegeben hat.

Das Buch „Arbeit und Struktur“ ist die Bestätigung dessen. Am Stück gelesen, zeigt es einen Schriftsteller, der um sein Können weiß. Der souverän mit der Sprache umgeht und das unterhaltende Moment nicht vernachlässigt, der Reflexionen über die Zeit und den Tod, den ihm eigenen Nihilismus und das Irresein klug und deutlich zu formulieren versteht. Und der auch keine Scheu mehr vor Kollegenschelte hat. So setzt er sich lange mit Uwe Tellkamps allseits umjubelten Roman „ Der Turm“ auseinander, bezeichnet diesen als „sprachlich verlotterten Scheißdreck“ – und fragt sich, wie er 2004 beim Klagenfurter Wettlesen mit seiner „Diesseits-des-Van-Allen-Gürtels“-Geschichte (für die er immerhin den Publikumspreis bekam) „gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamp-Text verlieren konnte“.

Sein Ego ist nicht so groß, dass er nicht gleich danach wieder einschränkt, womöglich immer noch in einer manischen Phase zu sein und an einem „Helmut-Kraußer-Journal“ zu basteln – aber verstecken muss er sich halt auch nicht mehr. Man würde an dieser Stelle am liebsten immer weiter aus diesem Tagebuch zitieren: hinreißende Naturbeobachtungen, berührende Gedanken zu Freunden und Eltern, die Kindheitserinnerungen. Es verhält sich mit „Arbeit und Struktur“ wie mit dem Gefühl, das Herrndorf beim Lesen großer Erzählungen hat. Dass man „teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat“.

Von „existenziellem Trost“ spricht er dann noch – und diesen Trost, den liefert auch Wolfgang Herrndorf mit seinen Büchern.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Rowohlt Berlin, 2013. 448 S. , 19, 95 €

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