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Schockmoment. Notre-Dame in Flammen (April 2019).

© Benoit Tessier / Reuters

Kulturgeschichte: Wo Europas Seele wohnt

Agnès Poirier erzählt vom wechselvollen Schicksal der Pariser Kathedrale Notre-Dame.

In diesem seltsam-schrecklichen Pandemiejahr hat sich so viel Unvorstellbares ereignet, dass es fast alles andere verdrängt. Das Virus befällt unsere Lungen, unser soziales Leben und unser Gedächtnis. Denn natürlich war auch 2019 nicht katastrophenfrei. Ein besonders schlimmer Augenblick: Am 15. April wird die Pariser Kathedrale Notre-Dame durch ein verheerendes Feuer schwer beschädigt.

Ihm fallen unter anderem die 800 Jahre alten Balken des Dachstuhls (genannt la forêt, der Wald) und der markante Spitzturm (la flèche) über der Vierung zum Opfer sowie der Teil des Gewölbes, den der Vierungsturm beim Absturz durchschlagen hat. Ein riesiges Baugerüst verschmilzt mit dem Mauerwerk, zur Zeit wird es in einer höchst komplizierten Aktion abgebaut.

Agnès Poiriers Buch „Notre-Dame – Die Seele Frankreichs“ ist da willkommen. Auch um in Erinnerung zu rufen: Pandemien kommen und gehen, während hier ganz andere Zeiträume verhandelt werden.

[Agnès Poirier: Notre-Dame – Die Seele Frankreichs. Aus dem Englischen von Monika Küpfer. Insel Verlag, Berlin 2020. 240 Seiten, 24 €.]

Laut Klappentext wohnt Poirier, die für „Le Monde“ und den „Guardian“ schreibt, gegenüber der Kathedrale, sie konnte das Feuer vom Küchenfenster aus verfolgen. Ein Feuer, das weltweit Bestürzung ausgelöst hat, auch in Deutschland, wo selbst der Kölner Dom nicht so viele Emotionen weckt. Das hängt wohl weniger mit der Architektur von Notre-Dame selbst zusammen als mit dem Standort im Zentrum von Paris. Der zugleich ein europäischer Seelenort ist, auf den sich alle einigen können.

Ritt durch die Jahrhunderte

Poirier gestaltet die Dramatik des 15. April, etwa die Rettung der Dornenkrone, zum Rahmen aus für einen Ritt durch die Jahrhunderte. Ein Ritt, auf dem der Katholikin allerdings immer wieder Pathos und Kitsch durchgehen, auffällig etwa in der Tendenz, einem Bauwerk Wesenszüge zuzuschreiben: „Die Glocken heulen. Notre-Dame weint“, schreibt sie. Oder: „Genau wie für Katholiken geweihtes Brot und Wein zum Leib und Blut Christi werden, findet an diesem Abend auf der Île de la Cité in den Herzen und Gedanken der Zuschauer, ob nah oder fern, eine Art Transsubstantiation statt. Notre-Dame ist in der Tat aus Fleisch und Blut, sie ist Teil unserer Identität.“ Geht’s auch eine Nummer kleiner?

Überzeugender ist sie in den „harten“ Abschnitten. Wenn sie eng an den Fakten und Details bleibt, für die sie unter anderem Jean-Claude Gallet, Chef der Pariser Feuerwehr, und den Architekten Philippe Villeneuve interviewt hat, unter dessen Aufsicht die Kathedrale seit 2013 renoviert wurde. Für das Mittelalter stützt sie sich auf Georges Dubys Standardwerk „Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-1420“.

Hier geht es los, unter dem legendären Bischof Maurice de Sully wird 1163 der Grundstein gelegt. Die ersten vier Baumeister von Notre-Dame bleiben anonym, wir kennen nicht ihre Namen, nur die Abschnitte, die unter ihrer Ägide entstanden: Türme, Querhaus, Fassade. An dieser Stelle hätte man gerne mehr über das Vorgängerbauwerk erfahren, Notre-Dame entstand ja nicht aus dem Nichts. Seit römischer und wohl auch gallischer Zeit wurden am Ostende der Île de la Cité Götter verehrt.

Dankgottesdienst nach der Revolution

Wie sah die frühere, um 550 entstandene Kathedrale aus, was gab überhaupt den Anstoß zum Neubau? Agnès Poirier beschreibt, wie sich Notre-Dame über Jahrhunderte ihren Rang in den Herzen der Franzosen erobert. Denn anfangs sind andere Kathedralen, Saint-Denis oder Reims, weitaus bedeutender. Was Poirier gut beherrscht: die allgemeine politische und soziale Lage zu skizzieren, dann hinein zu zoomen und zu schildern, was das konkret für Notre-Dame bedeutet. So erfährt man viel Verblüffendes.

Jeder weiß, was am 14. Juli 1789 geschah. Doch einen Tag später, am 15. Juli? Da hielten die Pariser und Pariserinnen einen Dankgottesdienst ab – in Notre-Dame. Das Verhältnis der Revolution zur Kathedrale, die auch während des Terreur nie geschlossen, geschweige denn abgerissen wurde, ist äußerst spannend. „Die Revolutionäre verknüpften die Kathedrale mit ihren politischen Errungenschaften und nahmen den transzendentalen Charakter dieses Ortes für ihr Anliegen in Anspruch“, schreibt Poirier.

Anschaulich beschreibt sie die Umwandlung in einen „Tempel der Vernunft“ einschließlich der grotesken Verrenkungen, die entstehen, wenn man aufgeklärtes Denken in einen zeremoniellen Rahmen pressen will.

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Über Napoleons Kaiserkrönung, Victor Hugo und sein eminent wirkmächtiges Buch „Der Glöckner von Notre-Dame“, den genialen Restaurator Eugène Viollet-le-Duc und einen anderen Eugène, nämlich Baron Haussmann, der Notre-Dame im Zuge seiner radikalen Modernisierung von Paris freilegt und eine Sicht auf die Kathedrale ermöglicht, die nie zuvor bestanden hat, geht es ins 20. Jahrhundert. Charles de Gaulle zieht nach der Befreiung von Paris einen Gottesdienst in Notre-Dame durch, obwohl um ihn herum immer noch feindliche Schüsse pfeifen. 2013 erhält die Kirche neue Glocken.

Das Buch schließt, wie es begann: mit dem Brand von 2019 und einem Resümee der kurzen, aber heftigen Wiederaufbaudebatte und den umstrittenen Millionenspenden reicher französischer Familien, die Poirier leidenschaftlich verteidigt. Und mit einer These: Die Katastrophe habe das Land aufgeweckt. „Von Ehrfurcht ergriffen, wird Frankreich klar, wie zutiefst christlich seine Geschichte ist, auch wenn sie seit mehr als einem Jahrhundert von Säkularismus übertüncht ist.“ Es macht nichts, dass viele das anders sehen werden.

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