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Auch so kann man auf Raubzug gehen. Rachel Wood (l.), Theresa Dyne Richard (m.) und Richard Jenkins.

© dpa

Witzig, poetisch, bizarr: „Kajillionaire“ folgt einer Gaunerbande der anderen Art

Die durchgeknallte Tragikomödie von Miranda July zeigt das Amerika von unten. Hier werden Raubzüge auch mal per Purzelbaum eingeleitet.

Im tragikomischen Kosmos von Miranda July ist das hässliche Los Angeles ein Hort verborgener Schönheit. Nichts funktioniert, aber alles ist möglich. So wie in „Ich und du und alle, die wir kennen“, dem Spielfilmdebüt der Künstlerin, Schriftstellerin und Musikerin von 2006.

In dem witzig-poetischen Episodenfilm läuft ein Schuhverkäufer zum Alltagsphilosophen auf, der der Kundin, die über zwickende Pumps klagt, vom Knöchel direkt in die Seele blickt. „Sie denken, dass Sie den Schmerz verdienen, nicht wahr? Aber das tun sie nicht!“.

Wie in „The Future“ von 2011, in dem July ihr kommunikationsgestörtes Personal um ein Paar Mittdreißiger erweitert, das die innige Verbindung zu ihren Laptops gegen die zu einer Katze aus dem Tierheim eintauschen möchte. Nur: die Katze kann sprechen, genauso wie der Mond.

Die Sehnsucht, zu jemandem gehören zu wollen. Das Unvermögen, auf andere zuzugehen. Die groteske Unstimmigkeit einer vermeintlich funktionierenden Welt. Das existenzielle Befremden darüber und die daraus resultierende Ratlosigkeit.

All das ventilieren Miranda Julys in ewiger Adoleszenz gefangene Figuren. Die Tragikomödie „Kajillionaire“ fügt dem Alltags-Panoptikum jetzt ein Familien-Trio hinzu. Und erstmalig ist es nicht Miranda July selbst, die mit ihren wasserblauen Augen als seelenvolle Heldin fungiert.

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Das 1974 geborene, einstige It-Girl der feministisch bewegten US-Indie-Kreativszene beschränkt sich diesmal auf Drehbuch und Regie. Das Spielen überlässt sie einem famosen Ensemble: Evan Rachel Wood (Old Dolio Dyne), Richard Jenkins (Robert Dyne), Gina Rodriguez (Melanie) und – Debra Winger in der Rolle der langmähnigen, hüftsteifen und extrem unterkühlten Mutter Theresa Dyne. Es ist ein kleiner Coup von Miranda July, den spröden Anti-Mutter-Part mit der zwischenzeitlich dem Filmgeschäft zugunsten des Familienlebens verlustig gegangenen „leading lady“ der Achtziger zu besetzen.

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Die Sache geht los wie Gaunerkomödien so losgehen. Zwei stehen Schmiere und eine führt den Bruch aus. Doch weil das Trickbetrüger-Leben der Familie Dyne einem „Ocean's Eleven“ für Arme gleicht, sieht der Überfall auf die Postfächer eines Vororts von L.A. alles andere als gefährlich aus. Mutter Theresa und Vater Robert stehen wie zufällig an der Bushalte und checken die Gegend ab.

Tochter Old Dolio vollführt eine absurde Abfolge aus Purzelbaum, Schlusssprung und Liegestütz, um auffällig unauffällig die Post zu entern. So bescheiden wie die Nachbarschaft fällt auch die Beute aus den entwendeten Briefen aus: ein Plüschtier und eine Krawatte.

Der Film erinnert ästhetisch manchmal an Wes Anderson

Das reicht – ebenso wie die Scheckbetrügereien der Dynes – nicht aus, um die Mietschulden auszugleichen. Mehrmals am Tag schleichen die Drei geduckt einen Zaun entlang, um nicht unter die Augen ihres Vermieters zu geraten.

Der wunderliche Inhaber der Seifenfabrik „Bubbles Inc.“ bricht angesichts der Ausflüchte der säumigen Zahler zwar regelmäßig in Tränen aus, aber seine Drohung, sie in zwei Wochen rauszuschmeißen, wenn die Kohle bis dann nicht da ist, klingt glaubwürdig.

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So eine schäbige Behausung im ehemaligen Büro neben der Fabrik ist besser als gar kein Dach über dem Kopf. Auch wenn tagtäglich pinker Schaum durch die Wand quillt, der in Eimern aufgefangen werden muss.

Miranda July inszeniert diese an Wes-Anderson-Filme erinnernden Merkwürdigkeiten lapidar und ohne in Schauwerten zu schwelgen. Ihr L.A. ist eins armer Leute. Obwohl die rigide wie religiöse Fundamentalisten ihre Position jenseits amerikanischer Konsumträume verteidigenden Dynes, anscheinend selbstgewählte Außenseiter sind.

Rachel Wood im Schlabbertrainingsanzug

Wie sie es wurden und warum sie Old Dolio seit 26 Jahren als Komplizin und nicht als Tochter betrachten, bleibt unklar. Erklärungen sind Miranda Julys Sache nicht. Erfühlungen schon eher.

Als die Konflikte zwischen der sich langsam abnabelnden Tochter und den Eltern eskalieren, sagt Vater Robert, den auf einstieges Hippietum hindeutenden Satz „Wir glaubten immer, es sei beleidigend, dich wie ein Kind zu behandeln.“ Genau das jedoch hat die emotional verkümmerte junge Frau hinter der hüftlangen Haargardine vermisst.

Romanze mit Sprengkraft. Rodriguez (l.) und Wood als Filmpaar.
Romanze mit Sprengkraft. Rodriguez (l.) und Wood als Filmpaar.

© Focus Features

In Schlabbertrainingsanzug und mit tiefer gelegter Stimme mimt Evan Rachel Wood dieses zutiefst verunsicherte Wesen. Als einmal eine Masseurin Old Dolio berühren will, zischt sie auf, als würde sie mit heißem Wasser verbrüht.

Erst als die Masseurin die Hände nach Geistheiler-Manier in der Luft über dem Körper bewegt, endet Old Dolios Pein. Seelische Schmerzen, die sich in Körper einschreiben – das ist ein Thema der Kino-Schamanin. Wunderbar sachte inszeniert July die Romanze zwischen Old Dolio und Melanie.

Die junge Puertoricanerin lernen die Dynes im Flugzeug kennen, als sie zwecks Reisegepäckbetrugs nach New York fliegen. Die sexy gekleidete Frohnatur mit der fürsorglichen Mutter ist das Gegenmodell zu Old Dolio. Melanie wiederum findet die Gaunereien der Dynes spannend. Dass sie mitmischt, entwickelt alsbald seine Sprengkraft.

Amerika von unten, Familie als Sekte, die Talmi-Warenwelt des Turbokapitalismus: in „Kajillionaire“ lässt sich einiges finden, was das Nachdenken lohnt. Dass die menschliche Existenz aus heiterem Himmel erschüttert werden kann, versinnbildlichen Erdbeben. Eins davon überstehen Melanie und Old Dolio in einer Tankstellentoilette mit defektem Licht. Der zarte Keim des Happyends gedeiht auch in der Finsternis.

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