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Debora Antmann

© privat

Wie sich eine Berliner Jüdin in diesen Tagen fühlt: Mein Herz schreit, mein Körper weint

In die Angst um Verwandte in Israel mischt sich Wut darüber, wie dieses Gefühl instrumentalisiert wird, um rassistische Politik in Deutschland und katastrophale Militäreinsätze gegen Gaza zu legitimieren.

Ein Freizeichen nach dem anderen. Niemand nimmt ab. Was normalerweise nicht außergewöhnlich für meine Tante (eigentlich Großtante) ist, die auf die Hundert zu geht und nicht mehr gut hört, treibt mich in den letzten Tagen in den Wahnsinn. Sorge und Ohnmacht dominieren meinen Körper, während ich es ein weiteres Mal versuche.

Über WhatsApp endlich die Stimme meines Cousins: Allen geht es gut. Auch sein Bruder ist jetzt in Sicherheit. Er wird mich über seine Großeltern – meine (Groß-)Tante und meinen (Groß-)Onkel auf dem Laufenden halten. Wie es mir ginge? „Gut, gut“. Eine Lüge, aber alles andere kommt mir unangemessen vor in Anbetracht der Situation, von der meine Familie gerade umgeben ist, im Vergleich zu meiner, einige 1000 Kilometer entfernt.

Meine Tante und mein Onkel sind zu alt und pflegebedürftig, um ernsthaft in Betracht zu ziehen, sie aus Israel rauszuholen. Und wohin auch? Meine Tante wäre nicht begeistert, würde ich sie nach Deutschland bringen und mein Onkel… ihm könnte ich es noch viel weniger antun, mit 99 Jahren womöglich in Deutschland zu sterben. Es ist körperliche Trauer, physischer Schmerz, Verzweiflung, die mich überkommen, wenn ich in diesen Tagen an meine Tante und meinen Onkel denke.

Ich bin unendlich weit weg und doch so nah dran

Die Vorstellung, dass die beiden, die die Schoa überlebt haben, mein Onkel in einem Zwangsarbeitslager der Nazis, nun am Ende doch durch Gewalt sterben könnten – bricht mir das Herz. Alter und Pflegebedürftigkeit machen eine kurzfristige Flucht in einen Bunker fast unmöglich. Ich liebe ihre kreative und im Grunde selbstgebaute Wohnung, aber mir wird schmerzlich bewusst, wie fragil der selbst zusammengezimmerte Anbau ist, in dem sie leben. Wie fragil sie sind. Ich kann nicht helfen, bin unendlich weit weg und doch so nah dran.

Mal ist alles taub, mal fühle ich alle Gefühle, weine ich alle Tränen … Es macht mich so wütend, dass Deutschland und Israel Überlebende wie meine Tante und meinen Onkel so sehr im Stich gelassen haben, dass sie mit fast hundert Jahren in etwas wohnen, das in Deutschland nicht mal als Baumhaus zugelassen wäre, weil sie unterhalb der Armutsgrenze leben. Eine Wohnung, die ebenso barrierefrei und angriffssicher ist wie ein Baumhaus.

Es macht mich wütend zu erleben, wie meine Trauer und Angst ausgeschlachtet werden, um rassistische Politik in Deutschland und katastrophale Militäreinsätze Israels gegen Gaza zu legitimieren.

„Nah dran?“ Alle in Israel und Palästina sind nah dran

Es lässt mich verzweifeln, dass Menschen nicht zu verstehen scheinen, dass meine Tränen und die Angst um meine Familie NICHT bedeuten, dass ich mehr um israelische Opfer, als um palästinensische Opfer trauere. Ich trauere um die Toten. Sie alle.

Es ist nicht bigott, dass meine Reaktion bei meiner eignen Familie noch einmal anders ausfällt. Dass alles in mir schreit, wenn jene Menschen von Tod und Gewalt bedroht sind, deren Überleben unser größter Schatz, unser wichtigstes Erbe ist, weil es uns ohne sie nicht gäbe, weil so viele aus ihrer Generation ausgelöscht wurden und es deswegen so viele in unserer Generation nie gegeben hat. Weil sie genug Leid erlebt haben und wir als Familie ihr Leid mit uns tragen. Wenn sie als Schoa-Überlebende gewaltvoll sterben würden: über so viel Grausamkeit würde ich nicht hinwegkommen.

Es macht mich einsam, die Resonanz um mich herum. Die Feiern und Rufe und Schmierereien, in meiner Stadt und nicht zu wissen, wohin mit der Angst und der Wut, die das in mir auslöst. Damit sie nicht instrumentalisiert oder relativiert oder ignoriert werden. Also schweige ich.

Es frustriert mich, wenn Menschen mich fragen, ob meine Familie „nah dran“ ist und ich ihnen Bilder vom Größenverhältnis Israel zu Deutschland schicken muss, damit sie verstehen, niemand in Israel und Palästina ist gerade nicht „nah dran“. Israel und Palästina sind insgesamt nicht mal so groß wie Brandenburg. Alles ist „nah dran“. „Ist deine Familie sicher?“ „Geht es deiner Familie gut?“.

Fragen, die für Menschen mit Familie in Gaza gerade noch relativer sind. Die Fragen müssten lauten „leben sie?“, „sind sie unverletzt?“. Fragen, die sich immer nur für den Moment beantworten lassen. Denn alle sind nah dran. Oder man ist eben unendlich weit weg. Mit dem Hörer in der Hand froh, dass es immerhin ein Freizeichen gibt. In hilfloser Angst, wenn niemand abnimmt.

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