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Die US-Lyrikerin Mary Ruefle, 69

© Matt Valentine/Suhrkamp Verlag

Mary Ruefles Prosaband "Mein Privatbesitz": Wie leicht die Traurigkeit sein kann

Gelber Schal und Schrumpfköpfe: Mit "Mein Privatbesitz" ist erstmals ein Prosaband der großartigen US-Lyrikerin Mary Ruefle auf Deutsch erschienen.

Ein gelber Seidenschal fungiert in der Kurzprosa der US-amerikanischen Dichterin Mary Ruefle als magisches Objekt. Dieser Schal stammte ursprünglich aus einer Geschichte von Albert Camus, in der ihn eine Dame, eine unauffällige Nebenfigur, über ihren Kopf hält.

In einem Akt kühner Transformation hat Ruefle diesen Schal als zentrales Motiv für ihre Prosaminiaturen adoptiert. Er weht schwerelos durch ihre verwinkelten Erzählungen und bringt die Figuren und Motive der Handlung wie ein Phantasie-Generator in Bewegung.

Es gehört zur großen Prosakunst Ruefles, ihre Figuren nicht in ein konventionelles Handlungsgerüst einzubetten, sondern fast in jedem Satz ihre Geschichten in eine neue Richtung zu verzweigen, ausgehend von skurrilen kleinen Entdeckungen in der Alltagswelt, in der sich ihre Heldinnen befinden.

Traurigkeit lässt sich auch durch Freude ersetzen

Die 1952 geborene und in Bennington/Vermont lebende Autorin hat in den USA bereits elf Gedichtbände und zwei Prosabände publiziert und in ihrer Heimat schon zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
In Deutschland wurde sie erst kürzlich durch ein Dossier in der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ (Nr. 97) bekannt, das eine Auswahl aus ihrer eminenten poetischen Überraschungs-Kunst vorstellte.

Etliche der 41 Prosastücke ihres Bandes „Mein Privatbesitz“ (Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2022. 127 Seiten, 18 €.), der im amerikanischen Original 2016 erschien, kann man mit gutem Recht auch als Prosagedichte lesen, denn beispielsweise die an verschiedenen Stellen platzierten Variationen über die elf Farben der „Traurigkeit“ sind in einem stark elliptischen, assoziativ flackernden Stil verfasst, der Farben, Bilder und Gegenstände in surrealer Manier verknüpft.

Die „Traurigkeiten“, die hier erörtert werden, arbeiten in den seltensten Fällen mit den traditionellen Ingredienzen der Melancholie, sondern lassen stets Elemente von Komik und Heiterkeit aufblitzen. Und obwohl viele dieser Kurzerzählungen, Meditationen und Mikro-Romane auch die letzten Dinge und das Thema der Vergänglichkeit einkreisen, findet Ruefle stets einen Weg, um ihrem Stoff die Schwere zu nehmen und die da und dort markierte Erfahrung von Daseinsfinsternis mit dezidiert lässigen erzählerischen Interventionen zu konterkarieren.

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Das Prosastück „Pause“ beginnt mit dem Scan eines handschriftlichen Verzweiflungs-Protokolls: „April's Cryalog“. Darauf folgt eine sarkastische Reflexion über die peinigende Zeit der Wechseljahre, wobei sich Suizidphantasien mit Notaten trotziger Selbstbehauptung überlagern. „Buchstäblich – ich wollte mich umbringen“, notiert die Erzählerin, „mit einem Bügeleisen, einem heißen, eingeschalteten Bügeleisen.“

Ein paar Sätze weiter folgt ganz trocken-ironisch die gegenläufige Bewegung: „An manchen Tagen möchtest du einen Baum vögeln, oder einen Hund, was auch immer in Reichweite ist.“

Mit dieser kunstvoll lakonischen Sprungtechnik bewegt sich Mary Ruefle durch ihre extrem verdichteten Miniaturen und schon der Auftaktsatz, so wie in „Glück gehabt“, kann jeweils einen ganzen Roman in nuce enthalten: „Während ich schlief, brach Gott in mein Herz ein und nagelte Bilder von Sich in verschiedenen Kleidern an die Wand.“

Ein phantastisches Meisterstück zelebriert die Erzählung „Alt-Unsterblichkeit“, in der ein englischer Graf das Manuskript eines Romans auf Teller gravieren lässt, um den Text dann von den Gästen eines von ihm organisierten Festmahls abwechselnd vorlesen zu lassen. Wie in allen Geschichten liegt die Idee der Unsterblichkeit am Ende in Trümmern.

Staunen über die Schöpfung

In die innersten Bezirke des Metaphysischen führt schließlich die Titelgeschichte, der umfangreichste Text des Bandes, in dem die Ich-Erzählerin so detailreich wie unheimlich über die Vorzüge von Schrumpfköpfen räsoniert und dabei die Grenzen zwischen Leben und Tod auslotet. Ihr „tiefinnerster Traum“ ist es, zwölf geliebte Schrumpfköpfe in eine Eierschachtel zu legen, die dann Trost bieten sollen „in Augenblicken großer Leere“.

Insgesamt liefern Ruefles subtil geflochtene Miniaturen überzeugende Therapeutika gegen den Horror Vacui. Die Farbe Gelb leuchtet auch im intensivsten Text des Bandes, in dem ein „gelber Fink“ den Futterspender vor der Wohnung einer vereinsamten und moribunden Frau besucht. Der Erzähler spricht aus der Vogelperspektive: „Sie sah mich an, als wäre ich das letzte Lebendige auf der Welt. Und da es stimmte, fraß ich weiter.“

Der Büchnerpreisträger und begeisterte Ruefle-Leser Clemens J. Setz hat der Autorin ein „nie abreißendes Staunen über die Schöpfung“ bescheinigt. Tatsächlich haben wir es hier mit einer hoch konzentrierten Prosa von berückender Imaginationskraft zu tun, die in jedem Satz neue überraschende Blickwinkel auf unsere Lebenswelt eröffnet.

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