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Mehr Druck, weniger Solidarität. Auch dafür stand Altkanzler Gerhard Schröder.

© Kay Nietfeld/dpa

Vertrauen verspielt, Verdruss gewonnen: Wie der Neoliberalismus die Sozialdemokratie beschädigt hat

Ökonom Gustav Horn wirft ein Licht auf den Niedergang der Sozialdemokratie. Um den Aufstieg der Rechten aufzuhalten, brauche es eine neue Wirtschaftspolitik.

Der Mann hat sich viel vorgenommen. Er will die politische Rechte durch eine neue Wirtschaftspolitik bekämpfen. Dazu muss er erklären, warum die alte Wirtschaftspolitik – der angebotsorientierte Neoliberalismus – die politische Rechte hervorgebracht hat.

Das Ergebnis ist eine hochinteressante Rekonstruktion der wirtschaftspolitischen Entwicklung seit Mitte der 1970er Jahre. Von einer zumindest in Deutschland erfolgreichen keynesianischen Nachfragepolitik mit Sozialstaat und Vollbeschäftigung hat sie im 21. Jahrhundert zu einer deutsch dominierten neoliberalen Angebotspolitik in der EU geführt und der Sozialdemokratie die Wähler entzogen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Gustav Horn, bis vor einem guten Jahr wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung des DGB und heute Mitglied im Parteivorstand der SPD, zeichnet die Weichenstellungen und theoretischen Argumentationsmuster dafür nach.

Dass die neoliberale Angebotstheorie, die seit Jahrzehnten die Reduktion der Staatstätigkeit zugunsten des Marktes propagiert, zu einer massiven Schwächung demokratischer Politik geführt hat, ist offenkundig.

Ökonomisch irrte ihr Glaube an das sich selbst stabilisierende Marktgleichgewicht. Und durch die globale Deregulierung des Kapitalverkehrs entfesselte sie einen Finanzmarkt, der sich von der Realwirtschaft ablöste, immer krisenanfälliger wurde und seinerseits Krisen auslöste. Dabei trieben insbesondere deutsche und britische Sozialdemokraten die von Ronald Reagan und Margaret Thatcher initiierte Deregulierung voran.

Die Fatalität neoliberaler Glaubenssätze

Fast wichtiger noch war dabei die Übernahme neoliberaler Glaubenssätze. Sozialversicherungen, Kernstück sozialdemokratischer institutioneller Solidarität gegen unverschuldete Lebensrisiken, wurden zu Hindernissen von „Selbstverantwortung“ und wirtschaftlichem Wachstum, zu „Hängematten“, weil die Arbeitnehmer sich nicht mehr anstrengten: Gerhard Schröders „faule Säcke“ lassen grüßen.

So hatte der Altkanzler vor 25 Jahren Lehrer abgetan – eine Bezeichnung, die er erst vor wenigen Wochen zurücknahm. Auch Arbeiter galten als von Natur aus bequem und mussten unter Druck gesetzt werden.

[Gustav A. Horn: Gegensteuern. Für eine neue Wirtschaftspolitik gegen Rechts. Ch. Links Verlag, Berlin 2020. 240 Seiten, 20 €.]

Je weniger Sozialversicherung, desto fleißiger die Arbeitnehmer, desto blühender die Wirtschaft, desto mehr Wachstum, desto größer die Freiheit der Individuen. Das galt seit Maastricht (1993) auch für den gemeinsamen Markt der EU.

Im Gegensatz zur „sozialen Marktwirtschaft“ der Bundesrepublik war er durch keine gemeinsame Sozialpolitik eingehegt, sondern setzte Arbeiter*innen dem rauen Wind des Standortwettbewerbs aus. Je niedriger ihre Löhne, je geringer der Kündigungsschutz, je labiler die Arbeitssicherheit, je weniger Mitbestimmung, desto besser für die unternehmerische „Angebotsseite“ der Produktion und den „Standort“ von Staaten im Wettbewerb um Kapitalinvestitionen.

Warum ließen sich Sozialdemokraten so in die Defensive bringen?

Die Erwartung, dass die Senkung der Produktionskosten Arbeitsplätze schaffen würde, erfüllte sich nur zum Teil und erhöhte die Risiken des Arbeits- und damit des Statusverlustes. Das machte Arbeitnehmer zunehmend zum Spielball des Marktes, entzog ihnen die Anerkennung und zerstörte ihr Selbstwertgefühl.

Warum haben sich Sozialdemokraten und Progressive von der neoliberalen Angebotstheorie und -politik so in die Defensive bringen lassen, dass Deutschland oder Großbritannien sogar zu Vorreitern des Neoliberalismus wurden?

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Horns Antwort lautet so: Seit der Mitte der siebziger Jahre fanden Sozialdemokraten in ihrem Instrumentenkasten einer keynesianischen Nachfrage- und antizyklischen Konjunkturpolitik keine wirksamen Antworten mehr.

Da waren sie mit dem Ölpreisschock und einem Inflationsschub konfrontiert. Er führte zu einer Zinspreiserhöhung, die einen deutlichen Rückgang an Investitionen nach sich zog und eine Rezession auslöste, die zu steigender Arbeitslosigkeit führte.

Die Finanzmärkte als Zuchtmeister

Die Verbindung von Inflation und Arbeitslosigkeit war theoretisch und praktisch neu. Für sie wurde – angesichts der noch starken Gewerkschaften – öffentlich eine Lohn-Preis-Spirale verantwortlich gemacht, die eine Steuerung durch eine Nachfragepolitik schwieriger und Angriffe auf die Gewerkschaften und auf Linke zumindest für gegnerische Eliten immer überzeugender machte.

Zudem thematisierte die sogenannte Neue Ökonomische Politik (NÖP) Fehlentwicklungen demokratischer Politik, die Versprechungen machte, die sie, um Steuererhöhungen zu vermeiden, nur durch neue Staatsschulden einhalten kann.

Deshalb brauchte gerade der demokratische Staat einen „Zuchtmeister“. Den fanden Neoliberale in den Märkten, nicht zuletzt in den Finanzmärkten, die über die „Kreditwürdigkeit“ und damit scheinbar über die Qualität nationaler Wirtschaftspolitiken entschieden.

Gegenentwurf zur sozialdemokratischen Solidarität

Damit war die Tür für eine neoliberale Angebotspolitik weit geöffnet. Der demokratische Staat sollte in die „Zucht“ des Marktes genommen werden. Die Gewerkschaften mussten geschwächt (das Programm der Eisernen Lady Margaret Thatcher), die Produktionskosten gegen die Inflation und die Steuern zur Anregung von Investitionen gesenkt werden, damit sich im globalen Wettbewerb Wachstum entfesseln ließ.

Sozialdemokraten wollten nicht mehr „altmodisch“ sein, sondern auch eine Angebotspolitik entwickeln. Diesmal eine linke: Um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, sollte der Staat für ein leistungsfähiges Bildungssystem (Stichwort Bologna: „Employability – Beschäftigungsfähigkeit“) und flexible Arbeitsmärkte sorgen.

Senkungen von Steuern und der Kosten der Sozialsysteme, „Anreize“ für Arbeitslose kamen hinzu. Die Märkte sollten ergänzt, aber nicht behindert werden. Das Ganze mündete in einen klaren Gegenentwurf zum sozialdemokratischen Grundverständnis von Solidarität.

Verlust von sozialem Status und Anerkennung

Die neoliberale Entwicklung dokumentierte allerdings die Unfähigkeit (sozial-)demokratischer Politik, die bedrohlichen Verhältnisse zu kontrollieren, denen immer mehr Menschen, auch aus dem Mittelstand, ausgesetzt waren.

Dabei ging es nicht nur um akute Not, sondern noch mehr um radikale Verunsicherung und um Angst vor dem Verlust von sozialem Status und von Anerkennung. Die Menschen suchten nach Schutz und Stärke, die sie von den Sozialdemokraten nicht bekamen.

Die politische Linke war in eine doppelte Not geraten: Vor der neoliberalen Wende hatte sie mit einer erst hilflosen und dann falschen Politik den Vorwurf der Staatsverschuldung auf sich gezogen und danach ihrerseits die neoliberale Wende tatkräftig vorangebracht. Damit entstand ein Vakuum, in das die politische Rechte eindringen konnte.

Neue Lösungen sind gefragt

Diese Rechte verspricht nun Geborgenheit in einem einheitlichen starken Volk und verlässliche Anerkennung als dessen Mitglied. Sie agiert zugleich anarchistisch-individualistisch und kollektivistisch: rebellisch gegen die Repräsentanten des demokratischen Staates und Unterwerfung verlangend unter ihre neue autoritäre Führung.

Wie kann Politik dagegensteuern? Ein neuer wirtschaftspolitischer Schwenk reicht nicht. Gegen die Enttäuschungs- und Ohnmachtsgefühle der Bürger*innen und den Mangel an Respekt, den sie empfinden, muss sie zugleich neue Chancen der Sicherheit für sie schaffen.

Gegen einen regressiven Nationalismus, der in der Enttäuschung endet, braucht es Wege der transnationalen demokratischen Gestaltung der Globalisierung. Mehr Partizipation auf kommunaler Ebene, mehr Kooperation mit der Zivilgesellschaft und zugleich mehr Solidarität und Integration in der EU sind gefordert.

Hohe Interdependenz von unterschiedlichen Entwicklungen

Investitionen, insbesondere in die Digitalisierung, sollen vor allem in den Kommunen finanziell und infrastrukturell unterstützt werden. Zugleich müssen wir durch eine neue Solidarität mehr nachhaltige politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität in der EU erreichen.

Gustav Horn wirft ein neues Licht auf den systemischen Niedergang derjenigen Sozialdemokratien, die den Neoliberalismus im 21. Jahrhundert engagiert praktiziert haben. Sie haben das Vertrauen vieler Anhänger zweimal verspielt.

Eine der besonders beeindruckenden Qualitäten von Horns historischer Darstellung ist, dass er durchweg die hohe Interdependenz von ökonomischen, politischen, sozialen und psychischen Entwicklungen thematisiert und damit wieder den Erklärungswert einer „Politischen Ökonomie“ vor Augen führt. Das Denken von John Maynard Keynes, der vom steuernden Nationalstaat ausging, muss für den globalen Kapitalismus weiterentwickelt werden.

Gesine Schwan

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