zum Hauptinhalt
Körpereinsatz, allein. Wie hier Ingo Hülsmann als Othello in Michael Thalheimers Inszenierung im Berliner Ensemble im Frühjahr 2019. 

© Wolfgang Krumm, dpa

Gedanken zur neuen Spielzeit: Wie das Theater in Zukunft wohl aussieht?

Hygieneregeln, brave Stoffe und Dramaturgen als Aufpasser – einige dieser Szenarien kündigen sich im Theater schon länger an. Ein Plausch mit einem Nachbarn.

Wegen der eng anliegenden Schutzmaske habe ich ihn erst nicht erkannt. Er trägt eine breite Gesichtsbedeckung auch auf der Straße, „Risikogruppe“. Ein Nachbar, wir kennen uns kaum, reden aber gelegentlich gern, grüßen einander über den Hof. Er sitzt bis spät nachts am Computer, er ist Theaterregisseur. Inszeniert hier und dort, nicht in Berlin. Aber das ist eine andere Geschichte.

Normalerweise würden jetzt die Proben beginnen für die neue Spielzeit, aber da läuft wenig bis nichts. Für viele Freiberufler der Theaterbranche wird die Soloselbstständigenhilfe bald aufgezehrt sein. Trübe Aussichten.

Spielen mit Abstand. Kaum Publikum. Keine Pausengespräche, die Stücke sollen durchlaufen, neunzig Minuten im Schnitt, auch damit lassen sich soziale Kontakte reduzieren. Das Virus glättet viele Ecken und Kanten. Ich hatte von Anfang das Gefühl einer allgemeinen Abflachung und Zeitverschiebung in eine uniforme Gegenwart.

Für solche klimatischen Veränderungen ist das Theater sensibel. Wir stellen uns in einen Hauseingang und sprechen über das, was demnächst auf die Bühne kommt, wenn überhaupt. Es werden sich, wie das so schön heißt, Formate durchsetzen, die den Vorsichtsmaßnahmen entsprechen. Spielarten, die es schon gibt, offenbar in vor auseilender Sorge wegen einer unbekannten Bedrohung.

Rumsteh- und Aufsagetheater, diskursive Sachen, bei denen die Akteure in Mikrofone sprechen statt in das Gesicht eines Gegenübers. Alles irgendwie schon virtuell, auch im Analogen.

Dramaturgen werden das Theater übernehmen

Mein Gesprächspartner fürchtet, es werde bald immer mehr Führungen geben, mit Kopfhörer durch die Stadt oder so, jemand erzählt dir übers Handy eine Geschichte, irgendwas Global-Lokales. Er sieht also kommen, wie die Dramaturgen das Theater übernehmen.

Harte These. Corona-Wahn? Dramaturgen machen alles Mögliche, arbeiten am Text, kümmern sich um Öffentlichkeitsarbeit, entwerfen Spielpläne und Programme, koordinieren usw.. Und wenn sie das einigermaßen hinkriegen, werden sie eines Tages auch einmal selbst Intendant.

Im Vergleich mit genialisch-wilden Regisseuren, unbezähmbaren Schauspielern, komplizierten Theaterautoren und noch komplizierteren Intendanten-Egos sind Dramaturgen so etwas wie die wandelnde Vernunft, die Ordnung im Theaterchaos.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Es zeichnet sich schon länger ab, dass das Theater vordergründig politischer und widerständiger wird, aber auch braver und cleaner. Innerlich sauber gekämmt, nach außen rebellisch. Vielleicht war das schon immer so. Die 68er-Regietheater-Truppe legte am Ende immer mehr Wert auf Renommee (und Bezahlung) als auf Rebellion.

Damals gab es große Dramaturgen, sie galten als Entdecker und intellektuelle Initiatoren. Aber wer sich an das wunderbare Damals erinnert, war nicht dabei, so ähnlich geht der Spruch doch?

Wonach sehnen wir uns, was werden wir vermissen?

Unser Gespräch mit Einkaufstüten und Schutzmaske, inzwischen etwas gelockert, dreht sich weiter um ein Bild vom neuen Theater. Wenn Dramaturgen, die Verwalter und Aufpasser, das Sagen haben an den Bühnen, wird es – so fasse ich mal zusammen – in Zukunft noch ordentlicher und planvoller zugehen, und alles wird noch vorhersehbarer.

Könnte es sein, dass in der Dramaturgie ohnehin schon seit Längerem an der Einhaltung von gewissen künstlerischen Hygienemaßnahmen gearbeitet wird?

Und wie war das vor dem Lockdown? Zugegeben, ich kann mich kaum erinnern, was wir da im vergangenen Winter alles gesehen oder auch nicht gesehen haben.

Vor Corona: Darüber liegt ein dichter Schleier, ein Mantel gnädigen Vergessens, und jetzt ist die große Frage, wonach wir uns sehnen, was wir vermissen?

Es ist jedenfalls nicht das, was zuletzt geboten wurde. Es könnte vielmehr sein, dass Corona das Denken und Fühlen verändert und verschiebt – dahin, wo wir noch nicht waren. In die Zukunft oder in eine verklärte Vergangenheit oder in eine Sphäre, die eine Mischung aus beiden darstellt.

Es wird zu voll auf dem Gehweg, Fahrräder, Kinderwagen, wir verabschieden uns herzlich ins Ungewisse. Möge mein Nachbar, der Regisseur, bald wieder Arbeit finden. Und eine kluge Dramaturgie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false