zum Hauptinhalt
Juli 1959: Alfred Bauer begleitet Sophia Loren zum Berlinale-Filmball.

© Getty Images

Der erste Chef der Berlinale: Wie Alfred Bauer seine NS-Verstrickung verschleierte

Keine Stunde Null, auch bei den Berliner Filmfestspielen: Viele Kulturinstitutionen tun sich mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte schwer.

Von

Es sind schwere Vorwürfe, die in der aktuellen „Zeit“ vom Donnerstag gegen den ersten Leiter der Berlinale, Alfred Bauer, erhoben werden. Bauer war den Recherchen zufolge ein wichtiger Funktionär der NS-Kulturbürokratie. Von 1942 bis Kriegsende arbeitete Bauer als Referent der Reichsfilmintendanz, wie Sitzungsprotokolle belegen. Ein krasser Kontrast zur bisherigen Wahrnehmung Bauers, der sich nach dem Krieg als „innerer Widerständler“ darstellte.

Für diese Wahrnehmung spielen Publikationen der Deutschen Kinemathek eine wichtige Rolle. Während der Berlinale sollte ein Band des Filmhistorikers Rolf Aurich über Alfred Bauer und die Anfänge der Filmfestspiele erscheinen. Bereits am Mittwoch hatte die Berlinale reagiert, zügig und unmissverständlich: Das Festival setzt den nach seinem Gründungsdirektor benannten Alfred-Bauer-Preis aus und will für die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit externe Wissenschaftler hinzuziehen.

Auch die Kinemathek reagierte schnell: Gemeinsam mit den anderen Herausgebern des Bands, dem be.braVerlag und der Ernst-Reuter-Stiftung, teilte sie mit, die Veröffentlichung werde verschoben.

Bauer wird als „eifriger SA-Mann“ bezeichnet

Die der „Zeit“ vorliegenden Quellen hatte auch Rolf Aurich studiert. Wie die Wochenzeitung schreibt – der „Zeit“ liegen die Fahnen des Bands vor –, folgt der Historiker aber eher Bauers entlastender Eigendarstellung. In einem Schreiben der Gauleitung Mainfranken von 1942 wird Bauer als „eifriger SA-Mann“ bezeichnet, schon vor seiner Einberufung. „Der Besuch der Versammlungen war stets ein guter. Seine politische Einstellung ist einwandfrei.“ Auch weiterhin werde von ihm „sein voller Einsatz für Staat und Bewegung erwartet. Heil Hitler!“, heißt es in dem Dokument, das auch dem Tagesspiegel vorliegt.

Aurich hatte diese Passage in seiner nun verschobenen Publikation nicht aufgenommen. Stattdessen zitiert er aus der gleichen Quelle, dass Bauer ein „bescheidener, anspruchsloser Mensch“ mit einwandfreiem sittlichem Verhalten sei. Seitens der Kinemathek hießt es nun, die Dokumente würden jetzt „einer vertieften Bewertung“ unterzogen. Deren Ergebnisse sollen veröffentlicht und später in einer Diskussionsveranstaltung vorgestellt werden.

Inbegriff von Weltoffenheit und Freiheitsgeist

Die Causa Bauer wirft kein gutes Licht auf die Zunft der Filmhistoriker. Schon in Wolfgang Jacobsens profunder Berlinale-Chronik anlässlich von „50 Jahre Berlinale“ aus dem Jahr 2000 ist knapp, aber klar die Rede davon, dass Bauer ab 1942 für die UFA arbeitete und in der Reichsfilmkammer tätig war. Die UFA war bekanntlich das Flaggschiff der nationalsozialistischen Unterhaltungsindustrie. Welche gehobene Position Bauer auch in der NS-Filmbehörde hatte, das interessierte aber bis heute offenbar kaum. Auch nicht die Filmhistoriker.

Wahrscheinlich, weil niemand es wissen wollte. Ausgerechnet die Filmfestspiele, dieser Inbegriff von Weltoffenheit, Freiheitsgeist und Toleranz, dieser Brückenschlag zwischen Ost und West zu Zeiten des Kalten Krieges, für den auch Bauer sich stark machte – ausgerechnet die Berlinale mit brauner Vergangenheit?

Kultur, das sind die Guten, so möchten wir es gern. Da guckt man nicht so genau hin, will sich die Laune nicht verderben lassen, nicht das Bildungserlebnis, den Kunstgenuss oder das Vergnügen der Unterhaltung. Ähnlich wie auf den Sport fällt ein vergleichsweise mildes Licht auf die Kultur im Nationalsozialismus.

Kinofans warten bei der Berlinale 1961 vor dem Zoo Palast auf die Ankunft ihrer Stars.
Kinofans warten bei der Berlinale 1961 vor dem Zoo Palast auf die Ankunft ihrer Stars.

© Heinz Köster/Stiftung Deutsche Kinemathek

Die Kultur arbeitet die Vergangenheit zögerlich auf

Anders jedenfalls lässt sich kaum erklären, dass zwar zahlreiche politische Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in den letzten 20 Jahren endlich ihre NS-Verstrickung aufgearbeitet haben, von der Deutschen Bank und der Lufthansa über das Auswärtige Amt bis zu den Richtern, aber die Kultur vergleichsweise wenig Vergangenheitsbewältigung in eigener Sache betrieb. Gut, der Historiker Misha Aster veröffentlichte 2007 einen Band über die Geschichte der Berliner Philharmoniker als „Das Reichsorchester“, auch dies ein NS-Kulturflaggschiff und Propagandainstrument. Aber die Museen, die Musentempel, die Verlage, sie tun sich schwer.

Folglich ist dann die Überraschung groß, wenn ein Günter Grass oder ein Walter Jens „plötzlich“ Mitglieder der Waffen-SS waren oder der NSDAP. Wenn „plötzlich“ klar wird, dass vielbewunderte Bilder zu Unrecht an Berliner Museumswänden hängen. Eine seltsame psychologische Dynamik.

Zum Beispiel Emil Nolde. Trotz ähnlicher früherer Ausstellungen ist erst mit der Schau im Hamburger Bahnhof 2019 endgültig in der Öffentlichkeit angekommen, dass er kein mit „Malverbot“ belegtes Opfer des NS-Regimes war, sondern ein Künstler, der sich dem System anbiederte. Noch 1963 schrieb der Nolde-Experte und -Biograf Werner Haftmann, zu dem Vorwurf, er habe die Nazi-Vergangenheit des Malers bewusst verschwiegen: „Tatsächlich ist das richtig, und ich habe kein Argument dagegen“.

Wunsch nach einem Schlussstrich

Von Werner Haftmann war erst auf einem Symposium im Oktober 2019 bekannt geworden, dass er selber NSDAP-Mitglied war. Er war maßgeblich bei den ersten Documenta-Weltkunstschauen in Kassel beteiligt, und auch hier „bröckelt der Mythos“ einer neuen demokratischen Moderne in Deutschland, wie die Zeitschrift „Monopol“ in der Ankündigung ihres Februar-Hefts schreibt. Neue Forschungen belegen eine größere Kontinuität zur NS-Zeit, als bisher angenommen. Überall das gleiche Bild: Die Nachkriegsgesellschaft bekam nur zu sehen und zu hören, was sie hören und sehen wollte.

Chris Wahl, Filmhistoriker an der Filmuniversität Babelsberg, ist jedenfalls nicht überrascht, dass es auch 75 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur noch solche Enthüllungen gibt. In den Fünfzigerjahren habe das öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der NS-Zeit stark nachgelassen, so Wahl auf Tagesspiegel-Anfrage. Ein solches Interesse habe den „Wünschen nach einem Schlussstrich und dem ungestörten Aufbau eines neuen Staates Platz gemacht“. Zur Erinnerung: Protestiert wurde gegen die Schlussstrich-Mentalität erst in den Sechzigern. Zu der Zeit war Heinrich Lübke Bundespräsident – ein Politiker mit NS-Vergangenheit.

NS-Kontinuität hinter den Kulissen

Kultur, das sind nicht nur die Guten, sie tut auch gut in schweren Zeiten, von der UFA-Operette über den Heimatfilm bis zu den Beziehungskomödien. In der deutschen Trümmerlandschaft nach 1945 hatten Trümmerfilme à la „Die Mörder sind unter uns“ keine Zukunft. All zu viel (Neo-)Realismus wollte keiner sehen, die Wirklichkeit war heftig genug. Lieber leichte Kost, lieber Heinz Rühmann. Der Volksschauspieler und ehemalige NS-Staatsschauspieler hatte sich 1938 von seiner jüdischen Frau scheiden lassen und konnte günstig eine Wannsee-Villa von einer jüdischen Witwe erwerben, die vor den Nazis fliehen musste.

Die Geschichte ist bekannt – und komplizierter als hier in Kürze darstellbar. Aber an Rühmanns Ruhm haben die Schattenseiten seiner Biografie nichts geändert. Schon 1946 wurde er nach einem kurzen Auftrittsverbot entnazifiert und gründete zunächst eine eigene Filmfirma, bevor er in den Fünfzigerjahren zum Star wurde. Zur Kontinuität hinter den Kulissen passt die auf der Bühne und auf der Leinwand.

Bei der Entnazifizierung gingen die Alliierten offenbar pragmatisch vor. Die Beispiele allein aus der Kultur sind Legion. Nur ein weiteres: Die Rolle von Wilhelm Furtwängler, Vorzeige-Dirigent der Nationalsozialisten und Direktor der Berliner Staatsoper ab 1934, ist umstritten. Einige Musikwissenschaftler halten ihn für einen Opportunisten, andere beteuern seine Integrität. Nach dem Krieg erteilten die Amerikaner ihm jedenfalls zunächst Dirigierverbot. 1952 wurde er Chef der Berliner Philharmoniker.

1944 half Bauer Filmleuten beim Verlassen Berlins

Auch Alfred Bauer wurde von den Briten 1946 mit Berufsverbot belegt, wie in der „Zeit“ zitierte Dokumente belegen. Trotzdem arbeitete er bis 1948 für die britische Militärregierung, als Berater in Filmangelegenheiten. Laut Rainer Rother, dem Direktor der Kinemathek, konnte er nach dem Krieg glaubwürdig auf Entlastungszeugen verweisen.

So soll er Ende 1944 in seiner Funktion in der Reichsintendanz Filmleuten beim Verlassen Berlins geholfen haben, als sich die Einnahme durch die Alliierten schon abzeichnete. „Er ließ sie zu Projekten außerhalb Berlins reisen, von denen die Beteiligten längst wussten, dass sie nicht mehr realisiert würden,“ so Rother. Bauer ließ die Alliierten glauben, dass sie es nicht mit einem überzeugten Nazi zu tun haben. Hier der „eifrige SA-Mann“, da der geschickte Taktierer, womöglich ein Lebensretter? Ein widersprüchliches Bild.

Im Interesse des Senats und der Alliierten

Und wie gelangte Bauer in die Position des Berlinale-Leiters? Als die ersten Filmfestspiele für den Sommer 1951 vorbereitet wurden, sollte zuerst Oswald Cammann die Leitung übernehmen. Dem vielbeschäftigten Funktionär fehlte aber die Zeit. So bringt sich Alfred Bauer bei Oscar Martay, dem Filmoffizier des US-Militärs in Berlin, als Akteur ins Spiel, sagt Rother – als einer, der die Interessen des Senats und der Alliierten vertritt. „Die deutschen Filmfirmen sind weg, die Defa ist im russischen Sektor außer Reichweite. Bauer verfügt über die Expertise und Kontakte, um etwas Neues zu beginnen.“ Der Erfolg des ersten Festivals bei begrenzten Ressourcen legitimierte ihn dann als Direktor.

„Neue Perspektiven der Filmkunst“: Der nach Alfred Bauer benannte Preis wurde seit 1987 im vermeintlichen Pioniergeist der Festivalanfänge vergeben. Aber es gibt auch hier keine Stunde Null, das ist jetzt klar. Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland, Preisträgerin 2017, schreibt auf Anfrage: „Es ist das Paradox der Geschichte, dass ich und mein verstorbener Freund und Meister Andrzej Wajda, der im Zweiten Weltkrieg im polnischen Untergrund war, diesen Preis mit Bauers Namen bekommen haben. Ich bin immer noch stolz darauf und nehme ihn nun als Silbernen Bären. Die Frage ist: Wie viele Leichen sind noch im Keller versteckt?“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false