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Igor Levit

© Felix Broede

Igor Levit im Gespräch: „Wenn Beethoven zur Tür reinkäme, würde ich erstmal fluchen“

Igor Levit legt sich auf Twitter gern mit Rechten an und hat alle Beethoven-Sonaten eingespielt. Ein Interview mit einem der wichtigsten Pianisten unserer Zeit.

„Citizen. European. Pianist“: So lautet die Selbstbeschreibung von Igor Levit auf seiner Webseite. Der Musiker, Jahrgang 1987, ist einer der bedeutendsten Klavierspieler seiner Generation.

In Nizhni Nowgorod geboren, kam er als Achtjähriger mit der Familie nach Hannover. Hier studierte er Klavier, u.a. bei Karl-Heinz Kämmerling und Matti Raekallio. Schon früh erhielt er etliche Preise, heute tritt er in den großen Konzertsälen auf .

Levit twittert gern (er hat 23.300 Follower) und legt sich mit Rechtspopulisten an. Auch im Konzert macht er schon mal den Mund auf.

Seit 2016 lebt Levit in Berlin. In seiner Wohnung in Mitte spielt er auf einem Steinway-Konzertflügel – eine Schenkung der Stiftung „Independent Opera at Sadler’s Wells“.

Diese Woche erscheint bei Sony sein fünftes Album, mit allen Beethoven-Sonaten. Levits CD-Debüt mit Beethovens fünf späten Sonaten ist 2013 erschienen. Am 18. und 19. September startet er in der Hamburger Elbphilharmonie eine Konzertreihe mit sämtlichen Sonaten. In Berlin spielt er als Nächstes Mozart mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra (29. 10., Philharmonie).

Herr Levit, mit Beethoven und Ihnen fing es an, als Sie 13 waren und die „Missa Solemnis“ hörten. Was ist da geschehen?
Es hat mich überwältigt. Vielleicht war ich auch 14, jedenfalls kein Alter, in dem man auf Oratorien abfährt. Die Aufnahme mit John Eliot Gardiner hörte ich ständig und spielte den Klavierauszug, ich konnte nicht genug davon bekommen. Zur gleichen Zeit brachte EMI die schönen LP-Boxen mit Celibidache-Live-Mitschnitten heraus. Bei Bruckners Achter war ein Berg auf dem Cover; das war die erste Symphonie, die mich weggefegt hat. Beides waren körperliche Initiationserlebnisse. Ob wilde Beethoven-Fugen oder Detroit-HipHop, ich fühlte mich verstanden. Weil da einer mit sich ringt, auch das Pathos gefiel mir. Blöd gesagt, es war einfach laut. Es ging mir rein wie ein Messer.

Mögen Sie das an Beethoven bis heute?
Dass er laut ist? Nein, dass er alles ist. Und so wunderbar barrierefrei. Ich überlege nicht stundenlang, wie und aus welchem Winkel heraus man einen Ton kreiert. Ich drücke auf die Taste, plopp, und sehe, wohin es mich führt. Das geschieht dann wieder sehr bewusst. Ich oktroyiere meinem Instrument nichts auf, ich spiele lieber mit ihm, deshalb kommt mir Beethovens Unmittelbarkeit entgegen. Manchmal komponiert er geradezu gegen das Klavier.

Wie, dagegen?
Seine Musik geht über das Instrument hinaus, sie ist orchestral und macht mich glauben, ich spiele mehr als nur Klavier. Dann bin ich Posaune, bin Gewalt, Verzweiflung, Einsamkeit und vieles mehr.

Studieren Sie die Originalnoten?
Ich habe alle Beethoven-Autografe, die es gibt. Auch die „Missa Solemnis“, ein Riesenbuch, es war grotesk teuer. Ich war ganz aufgeregt, als ich es auspackte, schlug gleich das „Benedictus“ auf, diese heilige Musik. Dann rief ich erst mal einen Freund an: Beethoven hatte eine Sauklaue, unmöglich! Ich betreibe erst mal weniger Quellenstudium, als dass ich dieses Gesamtkunstwerk wahrnehme. Ich sehe die Emotion. Die Frage, ob Wachsflecken auf dem Papier sind, weil er nachts komponierte, kommt erst später dazu. Auch die Sonaten sind wild notiert, er streicht und überschreibt Sachen dreifach, vierfach, bis kaum noch Papier da ist. Seine Schrift ist das pure Leben, wie seine Musik.

Sie sagen, Beethoven ist immer um Sie herum, 24/7. Worüber würden Sie mit ihm reden, wenn er jetzt zur Tür reinkäme?
Das ist hypothetisch, Beethoven ist nicht mein Zeitgenosse. Aber sein Werk ist mein Partner, dieses Dokument, das er hinterlassen hat. Ich interessiere mich brennend für das Biografische, habe alles über ihn gelesen und mir alles über ihn erzählen lassen. Aber es sind nur 50 Prozent. Die anderen 50 Prozent, das ist heute, das bin ich. Aus diesem Geist spiele ich.

Ihr Hochschullehrer Karl-Heinz Kämmerling hat Sie immer wieder die Sonate op. 2 Nr. 2 üben lassen. Ein musikantischer, verschmitzter, eher leichter Beethoven.
Fünf Jahre lang! Wenn wir in einer Unterrichtsstunde Brahms machten, holte Kämmerling mittendrin seine alte BeethovenEdition von Artur Schnabel heraus und wir feilten eine halbe Stunde an der inneren Spannung zwischen vier oder fünf Melodietönen. Heute weiß ich, wie wichtig diese mikroskopische Arbeit war. Wir hatten unsere Schwierigkeiten miteinander, aber mit dieser Sonate habe ich bei Kämmerling alle Vokabeln gelernt, die jetzt meinen Wortschatz ausmachen.

Und welche Sonate ist Ihnen inzwischen am nächsten?
Alle. Und die Waldstein- und die Hammerklavier-Sonate. Es gibt in der Klaviermusik eine Zeit vor und nach der WaldsteinSonate. Das Spannungsfeld zwischen dem Ich und dem Orchestralen findet sich zwar schon vorher, in der Pathétique oder den Sonaten op. 31. Aber die gestalterische Erfahrung ist mit nichts davor zu vergleichen. Dieses Stück ist eine Lebenserfahrung, eine plastische Erzählung, eine Freiheitsexplosion. Danach sind sogar die kleinsten, kürzeren Sonaten explosiv.

Gibt es auch welche, die Sie immer wieder befremden?
Wirklich fremd ist mir eigentlich keine mehr, auch wenn es extrem unangenehm zu Spielendes gibt. Der erste Satz von op. 31 Nr. 3 zum Beispiel, da bewegt man sich auf sehr dünnem Eis. Und manche Sonaten kosten viel Mühe, Hammerklavier natürlich. Wenn Beethoven tatsächlich zur Tür reinkäme, würde ich erst mal fluchen. Aber meine Erfahrung mit Komponisten-Reaktionen auf die Frage „Hast du sie noch alle?“ ist nicht die allerbeste. Auch Frederic Rzweski ist keine Hilfe.

Dessen Riesen-Variationenwerk „The People United Will Never Be Defeated“ gehört zu Ihren Lieblingsstücken …
… er sagt dann, ich habe das Stück vor 40 Jahren komponiert, was soll ich machen? Dann spiel’s halt nicht, wenn es zu schwer ist. Würde Beethoven wahrscheinlich auch sagen.

Mondscheinsonate, Appassionata, jeder kennt sie, und sei es als Melodie aus der Werbung. Möchten Sie die unbekannteren Sonaten gern mehr in den Fokus rücken?
Keine der 32 Sonaten kann sich beschweren, zu wenig gespielt zu werden. Da bin ich eher auf Mission für wirklich unbekannte Komponisten. Es ist mir ein Rätsel, warum viele Pianisten immer das gleiche Repertoire spielen. Wir sind doch auch selbst verantwortlich für die Programme, es sind nicht die angeblich bösen Konzertveranstalter und Plattenfirmen.

Beethoven ist Kernrepertoire. Wie gehen Sie mit den Klischees um?
Ich habe mein Konzertexamen mit „Für Elise“ beendet! Es ist mir egal. Am Ende bin auf mich selbst zurückgeworfen, spiele für mich und teile es mit anderen.

Aber Sie wissen um den Hallraum. Es gibt unzählige Gesamteinspielungen, allein Alfred Brendel hat die Beethoven-Sonaten drei Mal aufgenommen.
Der Hallraum spielt höchstens bei der Frage eine Rolle, mit welchen Aufnahmen ich aufgewachsen bin, mit Artur Schnabel und Friedrich Gulda. Sie sind denkbar unterschiedlich, Schnabel eher rhapsodisch, frei, wild, tief, und Gulda mit analytischer Tiefe, einer unfassbaren Präzision und unzähligen anderen Wundermomenten. Ich hatte sie immer im Ohr.

Und der Streit über einzelne Stücke? Für Ludwig Rellstab war der erste Satz der Mondscheinsonate eine nächtliche Bootsfahrt auf dem Vierwaldstätter See, pure Romantik. Für andere ist es eine Totenmesse.
Für mich ist es an manchen Tagen einfach ein böses Stück. Ich gehe nicht auf die Bühne und versuche, die Erwartungshaltung gegenüber dem Schlager Mondscheinsonate zu erfüllen.

Sie wollen sie auch nicht konterkarieren?
Nein, aber ich habe das Recht dazu, das ist mir wichtig. Als freies Individuum des 21. Jahrhunderts darf ich das Stück von links nach rechts drehen oder mittendrin unterbrechen und improvisieren. Niemand kann mir das verbieten. Zu Hause tue ich das viel, und wenn es aus meinem Innersten käme und nicht nur ein Gag wäre, würde ich es auch auf der Bühne tun. Frederic Rzweski hat einmal bei der Hammerklavier-Sonate riesengroße Improvisationen eingeschoben. In Salzburg haben Teodor Currentzis und Peter Sellars kürzlich ein Drittel der Arien aus Mozarts „Idomeneo“ herausgestrichen und das Rondo KV 505 hinzugefügt. Manche finden das verachtenswert, ich verteidige das Recht zu diesem Akt.

Das Werk ist nicht heilig?
Das Werk ist heilig, aber der Mensch ist frei. In der Hammerklavier-Sonate bin ich auch manchmal kurz davor, bei den zwei Kadenz-Momenten zu sagen, jetzt komme ich. Zu Hause spiele ich Stücke auch mal in anderen Tonarten, bis ich zur Originaltonart zurückkehre. Man hört die Musik dann frisch, wie gereinigt. Ich bin kein Musikterrorist, aber ich lasse mir nicht vorschreiben, was man auf dem Podium tun darf und was nicht.

Beethoven nahm sich selber Freiheiten. Schon die Anfänge, die wie aus dem Nichts kommen, etwa bei der Sturm-Sonate.
Da ist nur Klang oder Geräusch, scheinbar unstrukturiert, viele Sonaten fangen so an. Er war ein großer Improvisator, aber trotzdem sehr genau. Es ist am Ende immer sehr klar strukturiert. Auch bei den Vortragsbezeichnungen versuchte Beethoven, aus terminologischen Käfigen auszubrechen. Was bitte heißt „dämmernd“ im 5. Klavierkonzert? Oder „espressivo e semplice“ beim Rezitativ in der Sturmsonate, ist das nicht unvereinbar? Oder „Mit innigster Empfindung“? Wer behauptet, er spiele exakt, was in den Noten steht, ist überheblich. Ich weiß nicht, was Beethoven will. Ich versuche nur, es zu verstehen.

Sie spielen die Sonaten seit 15 Jahren. Was spielen Sie anders als früher?
Alles. Mein Leben hat sich verändert, ich kenne mich selber besser, mit meinen Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln, bin selber unmittelbarer geworden. Es lässt sich schwer präzisieren: Bis heute spiele ich nicht leise, wo Beethoven „laut“ will. Aber ich spiele mehr mein „laut“.

Konzertpodium oder Tonstudio, was ist der größte Unterschied?
Ich liebe beides. Der Unterschied ist, dass ich im Studio auf meinem eigenen Flügel spiele und mein Publikum nur aus zwei Leuten besteht, dem Tonmeister Andreas Neubronner und dem Klavierstimmer Thomas Hübsch. Von ihnen lasse ich mir alles sagen. Wir probieren, verwerfen, ringen um die Stücke und unterbrechen auch mal, um einen Witz zu erzählen. Ohne die beiden gäbe es die Aufnahmen nicht.

Wie lange hat es gedauert?
Eineinhalb Jahre. Die fünf letzten Sonaten haben wir von meinem Debütalbum übernommen, ich spiele sie heute anders. Aber ich stehe zu den älteren Aufnahmen. Die restlichen 27 Sonaten nahmen wir teils im Konzertsaal in Neumarkt auf, teils in Hannover. Neben meinem alten Gymnasium, das war schön. Übrigens, Gruß an Herrn Linnemann von der CDU wegen seines Vorschlags, Kinder nicht auf die Schule zu lassen, die kein Deutsch können. Wo bitteschön habe ich als Kind von russischen Kontingentflüchtlingen Deutsch gelernt, und zwar sehr schnell? Für so was ist Schule doch da.

Sie spielen den gesamten Zyklus in Luzern, in der Elbphilharmonie und 2020 in Stockholm. Warum nicht in Berlin?
In Stockholm wird es besonders intensiv, alle Sonaten in nur zwei mal zwei Wochen, darauf freue ich mich. Und wegen dieses köstlichen Vanillegebäcks, das man direkt neben dem Konzertsaal bekommt, werde ich weite Hemden tragen! Was Berlin betrifft: Das Beethoven-Jahr ist ja erst 2020, warten Sie’s ab!

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