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Winslows Roman "Tage der Toten": Weiße Ernte

Schnell mal eine Liste mit den besten Thrillern aller Zeiten machen – das Spiel ist beliebt, und im Streit über die Top-10-Platzierungen sind schon Freundschaften zerbrochen. Für mich ist Dashiell Hammetts „Rote Ernte“ die ewige Nummer eins.

Schnell mal eine Liste mit den besten Thrillern aller Zeiten machen – das Spiel ist beliebt, und im Streit über die Top-10-Platzierungen sind schon Freundschaften zerbrochen. Für mich ist Dashiell Hammetts „Rote Ernte“ die ewige Nummer eins. Sie erinnern sich natürlich: Ein namenloser Privatdetektiv wird von einer Agentur in die Kleinstadt Peaceville geschickt, besser bekannt als Pissville. Als er eintrifft, ist sein Auftraggeber ermordet worden. Der Ermittler merkt, dass er von den Reichen und Mächtigen der Stadt in eine Intrige eingespannt werden soll und hetzt aus Rache Unternehmer und Gewerkschaftler, Schwarzbrenner, Schmuggler und Mobster gegeneinander auf. Die Sache läuft schnell aus dem Ruder. Zwei Tage später hat der Detektiv kaltblütig einen Polizisten erschossen und den gewaltsamen Tod von einem halben Dutzend weiterer Personen verschuldet. Peaceville steht ein Bürgerkrieg bevor.

Ein anderes Buch: 1975 wird Art Keller von der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA als „Berater“ nach Mexiko entsandt. Zusammen mit Ángel Barrera, dem Polizeichef der Provinz Sinaloa, bringt er einen Drogenboss zu Fall. Doch Barrera, der selbst im großen Stil ins Geschäft einsteigen will, hat Keller nur benutzt, um einen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Der Fahnder will Vergeltung. Über zwanzig Jahre jagt er Barrera und seine Familie, die an der Spitze der größten „federación“ im mexikanischen Drogenhandel steht, und geht dabei buchstäblich über Leichen. Die Aufklärung eines Verbrechens ist immer selbst schon ein Verbrechen: Das ist die negative Dialektik des modernen Kriminalromans, die Dashiell Hammett 1929 mit „Rote Ernte“ begründet hat. Nun verpasst ihr der amerikanische Schriftsteller Don Winslow mit seinem Mammutwerk „Tage der Toten“ (Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte, Suhrkamp, Berlin 2010, 689 S., 14,95 €) ein Update.

Die Zeitleiste entspricht der Chronologie des „war on drugs“, bei dem die USA von Anfang an mehr als illegale Substanzen im Auge hatten. Seit Nixon in den siebziger Jahren die ersten DEA-Beamten über die Grenze in den Süden geschickt hat, ist der Kampf gegen die Drogen Teil einer militärischen Kampagne gegen die linken Bewegungen in Lateinamerika: Unter anderem hat der amerikanische Geheimdienst Waffen für die Contras in Nicaragua mit Kokain finanziert. Für die CIA war es die Strategie des kleineren Übels, wie Don Winslow den (semifiktiven) Regionalchef John Hobbs in einem Trainingscamp in El Salvador erläutern lässt, das mit dem Drogengeld der Barreras finanziert wird: „Ich weiß, sie sind brutal, heimtückisch und bösartig. Nur, die Kommunisten sind schlimmer.“

John Hobbs ist nicht der einzige böse Geist. Don Winslow – Jahrgang 1953 und bisher wegen seiner smarten Surfer-Krimis bekannt – liefert mit „Tage der Toten“ ein Pandämonium des mexikanischen Drogenhandels: Die neureichen „patrones“ des Barrera-Clans, die sich in Mexiko-City in die High Society einführen lassen, Autoschrauber und Fahrer, die für den Transport der Ware über die Grenze zuständig sind, Söldner und Killer, irische Gangster, die den Straßenverkauf in New York organisieren, und katholische Befreiungstheologen, die ohne zu zögern Spenden von Crack-Dealern annehmen. Und natürlich Art Keller. Der DEA-Cop hätte in dieser diabolischen Blut-und-Drogen-Oper den Helden spielen sollen – und macht statt dessen immer wieder einen Pakt mit einem anderen Teufel, um seine rote Ernte einzufahren: zuerst mit Ángel Barrera, dann mit den Schreibtischtätern der CIA, deren Kokain-Contra-Geschäfte er vor einem Untersuchungsausschuss mit einem Meineid deckt, nur um seinen ganz privaten Krieg zu führen.

Keller nimmt heftige Kollateralschäden in Kauf. Während er die Mitglieder der „federación“ gegeneinander aufhetzt, setzt er das Leben seiner Familie und Freunde aufs Spiel, unschuldige Menschen sterben, darunter zwei Kinder. „Wir werden, was wir hassen“, so die Erkenntnis, die Kellers Restgewissen ihm noch zubilligt, bevor es richtig schlimm wird. „Tage der Toten“ ist hart, brutal und zutiefst pessimistisch. Und falls ich eine Liste machen müsste: der beste Krimi des Jahres.

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