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Wem gehört der Schatten der Palme? Weise Erzählungen für Kinder gibt es in dem Erzählband „Die goldene Schatztruhe“.

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Lektüren zum Verstehen der Weltgesellschaft: Wasser und Sonne sind für alle da

Sachbuchempfehlungen: Ein Erzählband mit Geschichten aus aller Welt und eine erhellende Anthologie zum Phantasma des Nationalismus.

Von Caroline Fetscher

Aus aller Welt kamen die Geschichten, die dem Kind die Augen dafür öffneten, dass es auf der Welt unerschöpflich viel zu sehen, zu hören und zu wissen gibt. Mit zehn, elf Jahren gelangte „Die goldene Schatztruhe“ in meine Hände. 

Vom vielen Lesen und Blättern haben die Seiten fast wollene Ränder, zu schweigen von Spuren, die auf kindliches Speisen deuten. Das Buch enthält 65 Erzählungen, Legenden, Märchen und Anekdoten aus China, Asien, Afrika und Europa, komische, skurrile, philosophische.

Zwei Dattelfarmer, zum Beispiel, zankten sich darüber, wem der Schatten der Palme gehört, die auf dem Grundstück des einen stand, aber dem Garten des Anderen Schatten spendete, der ihn allein genoss. 

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Ein Kadi schlichtete den Streit, indem er darauf aufmerksam machte, dass keiner der beiden Palme Wasser, Boden oder Sonne geschaffen hatte. Daher gehöre keinem der Schatten: „Ihr dürft ihn höchstens benutzen, solange ihr lebt.“ 

Sie sollten ihre Kissen, das rote und das blaue, „friedlich nebeneinander“ legen und gemeinsam den Schatten genießen. Lehrreicher Witz steckte auch in der Geschichte des Chinesen, der vom frühen Hahnenschrei erst gestört wird, als ihm ein Nachbar geklagt hatte, wie sehr der ihn plagt.

Herausgegeben hatte den Band Cornelis Wilkeshuis, übersetzt aus dem Niederländischen erschien er 1966 im Heidelberger Verlag Carl Überreuter. (Seit Anfang 2020 gibt es den lange vergriffenen Sammelband übrigens wieder, jetzt als „book on demand“ im Tierbuchverlag Irene Hohe.) 

Erfahren ließ sich aus dem Wälzer mit dem grünen Leineneinband: Die Welt ist groß! Es gibt auf allen Kontinenten kluge und dumme Leute, und überall die gleichen Gefühle wie Zorn, Eifersucht und Geiz oder Liebe, Großmut und Freigiebigkeit.

Erste Einführung in Universalismus und Menschenrechte

Am liebsten wollte das Kind alle Menschen der Erde besuchen, und die Erkenntnis, dass das niemals in einem Leben möglich sein wird, war der erste Weltschmerz der Kinderzeit. 

Tröstlich aber der Gedanke, dass Leute allüberall nach Gerechtigkeit und Weisheit suchen, und wir einander auf die Weise doch kennen und erkennen. Mit einem Wort: Die Kinderanthologie war eine erste Einführung in den Universalismus und die Menschenrechte.

Völlig irrelevant zum Verstehen der Weltgesellschaft, das wurde später auf dieser Basis klar, war das Konzept der „Nation“, der Nationalismus, die Idee, es gebe einzigartige, homogene Großgruppen, die sich in ihrem Nationalstolz, darauf etwas einbilden zu dürfen, glauben, besser zu sein als andere.

Kolossaler Irrtum. Von dieser Einsicht lebt die hervorragende Anthologie: „Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus“ (von Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina, Maik Tändler. Ullstein, Berlin 2019, 256 S., 20 €.), die von der Ära Adenauer über „Wir sind das Volk“ bis zu aktuellen Xenophobien das Phantasma des Nationalismus ausleuchtet, klug und erhellend.
Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche: Gerrit Bartels über den Literaturbetrieb

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