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Schon Goethe hegte ein wohlbegründetes Misstrauen gegenüber dem Nationalismus. Eine Büste zeigt den Denker im Stadthallen-Garten in Kassel.

© dpa

„Was ist deutsch?“ von Dieter Borchmeyer: Auf der Suche nach der deutschen Identität

Von Goethe bis Walser: Dieter Borchmeyer schlägt in seiner hochgeistigen Studie „Was ist deutsch?“ Schneisen durch die nationale Literaturgeschichte.

Was ist deutsch? Viele denken bei dieser Frage gleich an umstrittene Sekundärtugenden wie Ordnung und Pünktlichkeit, andere an die Qualität von „Made in Germany“ oder die kartoffelzentrierte Küche. Man kann aber auch tiefgründiger ansetzen. Seit Jahrhunderten führen Schriftsteller, Philosophen und Künstler eine Debatte über das Deutsche an und für sich. Nun hat der 1941 geborene Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer eine tausendseitige Studie über diesen Diskurs vorgelegt.

Die chronisch unsichere Identität der Deutschen ist eines ihrer Leitmotive. Anders als bei stabileren Nationen wie England oder Frankreich war das Gebiet, das wir Deutschland nennen, über Jahrhunderte zerstückelt; war Beuteobjekt oder Aufmarschgebiet umgebender Mächte. Das ist ein Hauptgrund für deutsche Insuffizienzgefühle, die immer wieder durch schwere militärische Niederlagen verstärkt wurden.

Die Größen der deutschen Geschichte wollten von Nationalismus nichts wissen

Wie bei einem Manisch-Depressiven ist das Gefühl des Ungenügens bei den Deutschen in den Superioritätsrausch umgeschlagen – und dann konnte es lebensgefährlich werden, nicht deutsch zu sein. Daraus entwickelten schon Goethe und Schiller, lange vor der Reichsgründung, ein wohlbegründetes Misstrauen gegen den Nationalismus: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hoffet es, Deutsche, vergebens / Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus.“

Diese Sentenz wird Borchmeyer zum Motto für das kosmopolitische Verständnis des Deutschen. „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“ – auch diese Nietzsche-Formel zitiert er gern. Und belegt ein ums andere Mal, dass die Größen der deutschen Geistesgeschichte von nationaler Verengung nichts wissen wollten, auch Wagner nicht. Das ideale Deutschland: ein Land der Mitte zwischen West und Ost, ein Amalgam der Weltkulturen, eine Verschmelzungsleistung, eine Synthese.

Nationale Stereotypen und alltagskulturelle Vorlieben spielen bei Borchmeyer nur am Rand eine Rolle; bei ihm geht es vor allem um den hochliterarischen Diskurs. Was ist deutsch? Schau im Vorlesungsverzeichnis des Fachbereichs Germanistik nach. So erscheint dieses Buch trotz des gewaltigen Umfangs eher eng konzipiert. Der Eindruck drängt sich auf, dass der renommierte Germanist seine Schriften zu den Themen wiederaufbereitet hat, die ihn seit Langem umtreiben: Weimarer Klassik, Wagners Musiktheater, die Werke Thomas Manns.

Leider entwickelt Borchmeyer nur wenige eigenständige Ideen

Das führt dazu, dass manche Unterkapitel in der hier gebotenen Akzentuierung merkwürdig schief im Konzept sitzen. Martin Heidegger zum Beispiel. Keine Frage, dass dieser in Auftritt, Sprache und Denkstil wohl nur in Deutschland mögliche Philosoph in dieses Buch gehört. Nur scheint es, als hätte Borchmeyer gerade bloß einen Aufsatz zu Heideggers Kollaboration im Dritten Reich parat gehabt.

Für die Frage nach dem „Deutschen“ wäre es aber interessanter zu ergründen, warum gerade Heidegger, der Schwarzwaldphilosoph, über Jahre solche internationale Strahlkraft (etwa auf den französischen Existenzialismus) entwickeln konnte, als ein weiteres Mal das Versagen der deutschen Intelligenz unter Hitler zu beklagen.

Leider entwickelt Borchmeyer nur wenige eigenständige Ideen. Stattdessen moderiert er mit außerordentlicher Belesenheit und Zitierfreude die Reflexionen der Geistesgrößen und paraphrasiert einschlägige Essays zum Thema. Interessant immerhin, dass er, als er nach 900 Seiten kurz noch auf die jüngeren Entwicklungen seit der Wiedervereinigung zu sprechen kommt, nun einen erheblichen Bedeutungsverlust der Intellektuellen und Schriftsteller feststellt.

Ein Schmerz ist zwischen vielen Zeilen dieser gelehrten Studie spürbar

Mit Ausnahme von Martin Walser und seinem prophetischen „Geschichtsgefühl“ hätten sie 1989 weder links noch rechts der Elbe verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Es waren die kleinbürgerlichen Massen, die diese deutsche Revolution besorgten. „Währenddessen zogen westdeutsche Edelbitterintellektuelle ihre Bedenkenträgerstirnen in krause Falten, und auf der anderen Seite wandten die Staatsautoren der DDR – nicht wissen wollend, bestürzt, vergrämt oder beschämt – ihr Haupt ab.“

Wenig inspiriert lässt Borchmeyer auf den letzten Seiten noch die sattsam bekannten Feuilleton-Debatten Revue passieren, die in den Neunzigern um Christa Wolf, Martin Walser, Botho Strauß und Peter Handke geführt wurden und bei denen es – ziemlich kleingeistig – um unterschiedliche Verletzungen der politischen Korrektheit ging.

Das Deutsche sei kosmopolitisch, übernational, überethnisch und orientiere sich am Weltbürgertum Goethes und Thomas Manns. Borchmeyers Botschaft ist auch gegen das Ausgrenzungsdeutschtum der neuen Rechten gerichtet. Allerdings ging der kosmopolitische Anspruch einher mit kultureller Weltgeltung. Weltgeltung wie einst die deutsche Philosophie, die deutsche Musik oder die Lyrik der Romantik haben heutige deutsche Kulturleistungen aber nur noch selten. Rammstein – ja, die bringen Menschen in fernen Ländern immer noch dazu, mit Inbrunst ein paar dunkeldeutsche Sätze mitzusingen. Aber von Rammstein als zeitgemäßer Fortschreibung der deutschen Volksliedtradition ist bei Borchmeyer eben nicht die Rede.

Lässt sich die heute wieder drängende Frage nach der deutschen Identität aber beantworten, wenn man über den sehr geschätzten Thomas Mann kaum hinausblickt? Ein Schmerz ist zwischen vielen Zeilen dieser gelehrten Studie spürbar: Dass nämlich die hohen und weiten Reflexionshorizonte der deutschen Geistesgeschichte nur noch einer schwindenden Minderheit präsent sind. Auch das ist deutsch.

Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Rowohlt Berlin 2017. 1056 Seiten, 39,95 €.

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