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Kultur: Was die Bilder verraten

Susan Sontags neues Buch über Krieg, Moral und Fotografie ist eine ikonografische Erkundung unserer Welt

Susan Sontag hat jetzt ein denkbar aktuelles Buch in die Arena geworfen: „Regarding the Pain of Others“, einen Groß-Essay über Kriegsbilder. Der soeben in New York bei Farrar, Strauss and Giroux erschienene Band (20 $) ist mehr als nur eine Fortschreibung ihrer 1977 publizierten, längst kanonisierten Sammlung „On Photography“.

Statt „Über Fotografie“ hätte diese genausogut „Gegen Fotografie“ heißen können, sagte sie später einmal. Man konnte darin der Empörung einer Frau folgen, die der eigenen Faszination und ihrem Ekel an Bildern auf den Grund gehen wollte. Sie hatte sich in eleganter Rhetorik die Wut vom Leib geschrieben: gegen die räuberische Natur der Kamera, die die Menschen zum Objekt macht; gegen die Fotografen, die uns vorgaukeln, die Welt werde durch Fotos handhabbar; gegen eine Bilderflut, die den Betrachter nur abstumpfe und betäube.

Ein Vierteljahrhundert später muss die heute 70-jährige Autorin feststellen, dass die Bilder des Schreckens sie immer noch berühren. Statt eine Aussage über Fotografien im allgemeinen zu treffen, konzentriert sie sich jetzt auf Bilder des Leidens. Und geht dabei hart mit sich ins Gericht.

Denn wer sind wir eigentlich, die wir unseren Verdruss an den Bildern äußern? Wir, für die Kriege längst zu „Wohnzimmeransichten und -geräuschen“ geworden sind, ohne dass wir selbst jemals einen Krieg erfahren hätten, wir beklagen aus dem sicheren Lehnstuhl den Krieg als Bilder- und Medien-„Spektakel“. Eine „atemberaubend provinzielle“ Haltung gegenüber dem Leid anderer. Dabei machen Bilder heute aus, was wir über Kriege wissen.

Natürlich gehöre es zur Moderne, geographisch weit entfernte Gräuel durch die Kamera zu betrachten: mittels der „professionellen, spezialisierten Touristen, bekannt als Journalisten“. Die menschliche Neugier auf das Leid anderer ist allerdings seit Platons Zeiten bezeugt. Susan Sontag wäre nicht Amerikas Chefintellektuelle, wüsste sie an dieser Stelle nicht einen großen kunsthistorischen Bogen zu schlagen: von der Laokoon-Statue im Vatikanischen Museum, bei der ein Vater mit seinen beiden Söhnen von Schlangen erwürgt wird, bis zu den Kriegsbildern Goyas. Die Figuren sind tragisch, unentrinnbar dem Tod geweiht. Die Autorin entdeckt in der wiederholten Betrachtung nicht etwa ein niederes Bedürfnis, sondern ganz im Gegenteil eine ekstatische, an Religiösität grenzende Erfahrung. Eine Entgrenzung. Die Tradition des religiösen Denkens „verknüpft Schmerz mit Opfer, Opfer mit Erhabenheit“, es zeigt mit frommer Schauderlust immer wieder: Christus am Kreuz, das abgeschlagene Haupt des Johannes auf dem Tablett der blutrünstigen Salomé, die Märtyrerdarstellungen in Öl.

Mitleid und Handeln

Doch Fotografien von Krieg und Gewalt, sagt Sontag, sind in einem Punkt anders: Sie sind nicht überhöhte Fiktionen eines Künstlers, sondern die Dokumente tatsächlicher menschlicher Schrecken. Das weise uns eine andere Rolle zu: Entweder wir schauen als Voyeure hin oder als Feiglinge weg.

Unsere Beziehung zum Leid sei in den heutigen Gesellschaften auch keineswegs religiös erbaulich, sondern praktisch moralisch. Leid habe einen „Fehler, einen Unfall oder ein Verbrechen“ als Ursache. Dem modernen Betrachter werde zugleich die Verantwortung aufgedrängt, dieses Leid zu beenden. „Mitleid muss in Aktion umgewandelt werden, oder es erlischt“, schreibt Sontag und hat damit einen Gedanken weitergedacht, der 1977 noch in einer Sackgasse endete: Was gegenüber Bildern abstumpft und apathisch macht, glaubt sie heute, ist nicht die schiere Bilderflut, sondern die Rolle, in die sie den Betrachter drängt – die eines ohnmächtigen Rezipienten. Erst diese Passivität zerstöre das Mitgefühl, schreibt sie.

Das Medium wird Botschaft

Aber ist die ständig erneuerte Sympathie mit den Opfern, die Sontag einst einforderte, überhaupt nützlich? Sie hilft keinem, argumentiert sie heute. Im Gegenteil zementiere sie unsere Unschuld und Ohnmacht zugleich. Für den Betrachter gehen die Bilder, irgendwann, losgelöst vom konkreten Anlass, in den persönlichen Bilderschatz ein, der nur noch eines wiederholt bekräftigt: zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind. Individuelle Empörung weicht einem umfassenden Verständnis der Welt. Die Distanz, die Bilder des Schreckens uns geben, schlägt Sontag vor, solle man daher zum Nachdenken darüber nutzen, inwieweit unsere eigene privilegierte Situation mit dem Leid jener Menschen zusammenhängt.

Schreckensbilder allein, sagt Sontag, taugen nicht einmal zum Verstehen. Sie taugen nur zum Schock. Zwar gibt die Arretierung der Realität in einem Bild die einzigartige Möglichkeit der Versenkung, des Verweilens in einem Stück angehaltener Zeit. Man könne jedes einzeln als memento mori verstehen, als säkulare Ikone. Für das wirkliche Verstehen jedoch brauche man Zusammenhänge und Relationen, kurz: Erzählungen. Die weltweite Kommunikation über Bilder, dieser scheinbar überall verständliche Code, habe längst die Erinnerungsmechanismen grundsätzlich verändert. Statt in den Strukturen und Zusammenhängen einer Erzählung erinnern die Menschen in Bildern. Punktuell. Zitathaft. Jedes historische Ereignis erhält ein Label: Für den Vietnam-Krieg steht das nackte, rennende Mädchen, Napalmrauch und Soldaten hinter sich. Für den spanischen Bürgerkrieg steht Robert Capas fallender Soldat. Für das Dritte Reich stehen die Bilder, die nach der Befreiung in den Konzentrationslagern aufgenommen wurden. Diese Bilder aber sind nur fragmentarische Schlaglichter der Geschichte, pars pro toto.

Und je nachdem, auf welchem Weg das Bild an seine Betrachter gelangt, ändert sich seine Bedeutung. Als Teil einer visuellen Rhetorik lassen sich identische Bilder mittels eines anderen Distributionskanals für unterschiedliche Zwecke ge- und missbrauchen: Ein Bild, das in einer Zeitung informiert und dokumentiert, wirkt in einer Galerie womöglich ausbeuterisch und als Werbung, siehe Benetton, obszön. Hier allerdings ist Susan Sontags Erkenntnis ist nicht neu: Marshall McLuhan argumentierte in den 60er Jahren, dass sich der komplette Inhalt der Medien in deren Kanälen auflöse, und gipfelte in der Behauptung: „Das Medium ist die Botschaft.“ Das war radikal. Der Kulturphilosoph Vilém Flusser präzisiert in „Für eine Philosophie der Fotografie“, es gebe „Kanäle für angeblich indikative Fotos (zum Beispiel wissenschaftliche Publikationen und Reportagemagazine), Kanäle für angeblich imperative Fotos (zum Beispiel politische und kommerzielle Werbeplakate) und Kanäle für angeblich künstlerische Fotos (zum Beispiel Galerien und Kunstzeitschriften)“. Das war klug. Denn die „Kanäle“ bestimmen die Bedeutung der Fotografie. Und ihre Codierung kann im Nachhinein geändert werden.

Die neue Macht des Wortes

Dann sagt ein Bild nicht mehr als tausend Worte, sondern ohne Worte nichts, vermutet Sontag. Immer dann, wenn Bilder Teil dessen sind, was wir „Nachrichten“ nennen, schreibt sie, liegt die Wahrheit nicht im Bild selbst, sondern in dessen korrektem Etikett: „Ändere die Unterschrift, und die toten Kinder können wieder und wieder verwendet werden.“ Je nachdem, wer mit ihnen Propaganda treiben will. Gisèle Freund hat in „Photographie und Gesellschaft“ (1974) diesen Zusammenhang mit vielen Beispielen beleuchtet. Für Sontag bedeutet er eine nachträgliche Etablierung des Wortes gegenüber dem Bild – als sei hier eine Korrektur der Machtverhältnisse nötig.

Das Mädchen und der Tod

Dieser kunstvoll komponierte Essay, der zugleich eine kunsthistorische Recherche ist, gibt auch Anlass, über den Krieg zu reden, über die menschliche Verantwortung gegenüber dem Leid und über amerikanische Traditionen. Dabei gelangt Sontag zu Thesen wie dieser: „Die Tötungsmaschine hat ein Geschlecht - und das ist männlich.“ Auch wenn Susan Sontag als Romanschriftstellerin gelegentlich extrem spröde Prosa schreibt – als Essayistin packt sie jedesmal der Furor. Dann schreibt sie mit einer verführerischen Polemik, packend, subjektiv, auch mal ungerecht. Sie hat viel zu sagen und nichts zu verlieren. Das mag damit zusammenhängen, dass Susan Sontag mit der Fotografie ein Thema gefunden hat, das sie durchs Leben begleitet: Sontag lebt seit Jahren mit der Starfotografin Annie Leibovitz zusammen. Und ihr eigener Schlüssel zur Fotografie verbindet sich nicht mit einem angenehmen, faszinierenden Moment – wie bei Roland Barthes, der eine Wahrheit über das Wesen seiner Mutter in einer ihrer Kinderfotografien zu entdecken glaubte – sondern mit den Fotos aus dem Konzentrationslager von Bergen-Belsen.

Susan war zwölf, als sie die in einem Buchladen in Santa Monica entdeckte. „Seither scheint es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: in die Zeit, bevor ich diese Fotos sah, und die Zeit danach,“ schrieb sie 1977. „Was könnte es nützen, sie zu betrachten?“ Es scheint, als hätte sie 25 Jahre später die Antwort gefunden. Einen Rest von diesem Aufgewühltsein, einem tiefen, existentiellen Kinderschrecken, liest man noch in ihrem aktuellen Buch.

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