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Lebensadern. Frisches Blattgrün steht für den Beginn eines neuen Zyklus.

© Getty Images/iStockphoto

Kulturgeschichte einer Farbe: Warum Grün für viel mehr als den Frühling steht

Sie steht für neues Leben und Nachhaltigkeit, aber sie hat auch giftige Seiten. Jetzt gibt es ein Buch zur Farbe Grün. Passend zur Jahreszeit.

Was wäre das Leben ohne Chlorophyll. Ohne den Stoff gäbe es keine Fotosynthese, keine Atemluft, keinen Frühling. Und keine Karwoche, vom Palmsonntag, der im Volksmund auch Grüner Sonntag heißt, bis zu Gründonnerstag.

Grünes Licht für die Büßer: Nach altem Brauch kommt am letzten Tag der Fastenzeit Gemüse auf den Tisch. Auch wenn nicht überliefert ist, was beim Abendmahl der Jünger mit Jesus auf der Speisekarte stand.

Langsam wird es draußen wieder grün. Nichts ist schöner als dieses erste zarte Grün, das aus den winterkahlen Ästen sprießt und aus den Blumenzwiebeln, es verspricht Sonne, Aufbruch, linde Lüfte. „Du junges Grün, du frisches Gras / wie manches Herz durch dich genas“, heißt es im Schumann-Lied „Erstes Grün“, das von Sehnsuchtsseufzern durchzogen ist. Die Wehmut weicht der Hoffnung: So rein sind die Triebe, so unschuldig und unversehrt, dass sie bessere Zeiten verheißen.

Seit altersher steht Grün für Jugend und neues Leben, neuerdings auch für Nachhaltigkeit und Kanzlerkandidatur. Schon die Etymologie legt die Assoziation mit Wachstum und Fruchtbarkeit nahe, ist der Farbenname doch mit dem Wortstamm von „Gras“ verwandt; das althochdeutsche gruoni bedeutet „wachsen, sprießen“.

Kein Wunder, dass die Hau(p)tfarbe der Natur gute Laune macht, ob man nun dank grüner Welle durch die Stadt flitzen kann, grünes Licht für seine Projekte bekommt, in der grünen Lunge Berlins (vulgo: Tiergarten) Spaziergänge unternimmt oder davon träumt, dass alle drei Corona-Ampeln endlich wieder auf Grün wechseln. Alles im grünen Bereich, es wäre das Paradies.

Das grüne Buch

Der Pharmazeut und Künstler Hermann J. Roth hat ein ganzes Buch zur Farbe herausgebracht. Mit schimmernd grünem Einband, grünem Buchschnitt und grünen Illustrationen, von der Grünalge über die Baumpython bis zu Tamara de Lempickas Art-Déco-Gemälde „Junges Mädchen in Grün“. Vor so viel energischem Kolorit tritt selbst der Autor zurück: Roths Name findet sich erst auf der letzten Seite, im bibliographischen Kleingedruckten.

„Grün: Das Buch zur Farbe“ (Dudenverlag, 208 Seiten, 22 €) versammelt nicht nur Wortstamm-Geschichten und Redewendungen, bei denen der Schreckensruf „Ach, du grüne Neune!“ übrigens auf die Unglück verheißende französische Pik-Neun zurückgeht. Der Band ist vielmehr eine Fundgrube für alles, was mit der Farbe zu tun hat, sortiert in Kapiteln wie Botanik, Zoologie, Politik, Religion, Kunst oder Musik. Knapp hundert deutsche Ortsnamen werden aufgezählt, wobei Bezeichnungen wie Grünberg, Grünbach oder Grünheide bis zu neun Mal auf der Landkarte auftauchen.

Der Mensch liest gerne Listen, also weiter. Bei den Kunstwerken folgen den mit Malachit oder Veroneser-Grün-Pigmenten hantierenden Renaissancemalern samt Grün-Fan Hans Baldung (was ihm den Beinamen Grien einbrachte) Kandinsky, Chagall, Beuys und viele mehr. Unter den Dutzenden Buchtiteln finden sich Klassiker wie Gottfried Kellers Bildungsroman „Der Grüne Heinrich“ und A. S. Neills Antiautoritäts-Bibel „Die grüne Wolke“. Und bei den rund 70 Liedtiteln sind auch Eliza Doolittles Sprachlernverse aus „My Fair Lady“ dabei.

Es grünt so grün im Musical

Die Musical-Zeilen „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen“, die der jüdische Emigrant Robert Gilbert so frei wie grandios für die deutsche Fassung erfunden hat, markieren den Moment der Erkenntnis: den Augenblick, als bei der berlinernden Göre der Groschen fällt. „Mein Gott, jetzt hat sie’s“, reagiert Sprachprofessor Henry Higgins auf Elizas Entdeckung des Hochdeutschen.

Der Widerspenstigen Zähmung: Über den Sexismus jener Zurichtung eines nassforschen Blumenmädchens zur bürgerlichen Dame wird inzwischen nicht nur am Broadway gestritten – schließlich belehrt auch Eliza ihren Macho-Mentor eines Besseren. Gilberts spitzmündig-spitzbübisches „es grünt so grün“ macht so oder so einer Farbe alle Ehre, die es in sich hat.

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Grün entsteht, wenn man das kühle Blau mit dem sonnenwarmen Gelb mischt. Aber es erschöpft sich nicht in seiner harmonisierenden Wirkung. Klar, die Farbe verheißt Entspannung. Adenauer ließ vier Rheinbrücken mit patina-besänftigendem, wetterbeständigem Chromoxidgrün streichen, was der Farbpalette (und einst auch den Zügen der Deutschen Bahn) das „Kölner Brückengrün“ bescherte. Auch das Klinikpersonal im OP-Raum trägt Grün, nicht zuletzt wegen des Nachbildeffekts. Es neutralisiert nämlich die Komplementärfarbe des roten Bluts besser als weiße Arztkittel.

Aller Anfang ist mit Vorliebe grün

Schultafeln sind ebenfalls grün, weil der Anblick angeblich beruhigt – was Turbulenzen im Klassenzimmer nicht unbedingt verhindert. Und der Islam ist grün, weil Mohammed die Farbe geliebt haben soll, weil sie das Paradies einer Oase in der Wüste verheißt und weil der Koran die Muslime als Gemeinschaft der Mitte versteht, zwischen den anderen monotheistischen Religionen.

Wenn die Kämpfer der Hamas jedoch grüne Stirnbänder tragen, signalisiert der Farbton das Gegenteil, Militanz und Gewaltbereitschaft. Die dem Arabischen Frühling vorausgehende Grüne Bewegung im Iran brachte 2009 hingegen vor allem friedliche Proteste auf die Straße.

Nicht nur im Frühling, auch sonst ist aller Anfang mit Vorliebe grün. Grünschnäbel und Greenhorns können ein Lied davon singen, ebenso „Der Grüne Heinrich“, der sich bei seiner Erziehung zum ordentlichen Staatsdiener sein naives romantisches Gemüt bewahrt. Längst bekleidet die Farbe auch den Aufbruch in der Politik. Seit 1980 die Partei der Grünen gegründet wurde, brachte sie es auf 32 Regierungsbeteiligungen bei Bund- und Länderwahlen, allen Fundi-Realo-Disputen zum Trotz. Und ist zur Zeit stark wie nie.

Glaube und Laube

Glaube, Hoffnung, alles gut und schön, aber die Liebe ist am Ende doch rot. Von wegen. Wer beim letzten Strahl der Sonne am Meereshorizont das seltene grüne Leuchten erblickt, dem ist sie ebenfalls hold, Eric Rohmer hat einen Film darüber gedreht. Auch die Minnesänger tauchten Amouren in grünes Licht, vor allem die erste Verliebtheit. „Grün ist allem mein Sinn / ist der lieb ein anfing“, heißt es in einem der mittelalterlichen Lieder.

Weshalb das Glück ebenfalls grün ist, beim Kleeblatt sowieso und, etwas umstrittener, auf dem Grünen Hügel für Wagnerianer. Jade, Smaragde und das in der Malerei bewährte Malachit zieren Reichtum und Schönheit. Und sie bescherten Dresdens Kunstschätzen das Grüne Gewölbe.

Dummerweise ist das Gift oft genauso gefärbt. Im Chemie-Kapitel des „Grün“- Buchs findet sich die Geschichte von Napoleon, der bei seiner Verbannung auf der Insel St. Helena zwischen Tapeten lebte, die in Schweinfurter Grün gehalten waren – der Ex-Kaiser liebte die lichtintensive Farbe. Das Pigment ist jedoch arsenhaltig. Tatsächlich wurden an den Überresten von Napoleons Leiche hohe Arsenkonzentrationen gefunden, was die Giftmordspekulationen neu befeuerte. Die gefährliche bis tödliche Wirkung des grünblättrigen Schwefelkopfs und des grünen Knollenblätterpilzes ist dagegen unstrittig. Drachen sind grün, sie speien Gift und Galle, und wer grün vor Neid wird, mit dem ist nicht zu spaßen.

Der ist mir nicht geheuer, dem bin ich nicht grün: Dass solche Leute früher mit der grünen Minna abtransportiert wurden, zeigt ebenfalls die Ambivalenz der freundlichen Farbe. Trotzdem versinnbildlicht eine grüne Welt gerade heute die Vision einer besseren Zukunft, ohne Umweltzerstörung und Rassismus. Davon künden Greenpeace, Verpackungen mit grünem Punkt (die seltsamerweise in die gelbe Tonne gehören) und zahllose grüne Nachhaltigkeitsinitiativen. Nicht zu vergessen Kermit, der Frosch, aus der Sesamstraße.

Und natürlich Kermit, der Frosch

Kermits Song „Bein’ Green“ von 1970 hat Geschichte geschrieben, er wurde unter anderem von Frank Sinatra und Diana Ross gecovert. Es ist nicht leicht, grün zu sein, klagt Kermit darin. Bis er merkt, wie toll seine Farbe eigentlich ist. „I’m green and it’ll do fine. It’s beautiful / And I think it’s what I want to be“: Das Lamento mausert sich zum Protestsong. Kermit wehrt sich gegen die Diskriminierung wegen seiner Hautfarbe, er besingt die Notwendigkeit von Identitätspolitik für Minderheiten. Green lives matter, eine Antirassismus-Hymne.

Beim Klimawandel hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es mit ein bisschen Tünche nicht getan ist. Wer Nachhaltigkeit nur vortäuscht, wird des „Greenwashings“ bezichtigt. Der japanische Filmemacher Nagisa Oshima misstraute dem Grün noch weit radikaler, er hielt es für eine einzige Lüge. 1974 erklärte er unter der Überschrift „Verbannt das Grün“, warum er sich in seinen Filmen lange auch nur einen Schimmer der Farbe verboten hat.

„Grün besänftigt das Herz der Zuschauer“, schrieb der Skandalregisseur von „Im Reich der Sinne“, der 2013 gestorben ist. Es versüße die Gefühle, mildere jede Spannung, jeden Konflikt. Die Farbe beschwöre das Trugbild einer heilen Welt herauf.

Oshimas Verdikt, das in Roths Grün-Buch übrigens fehlt, macht das Bild erst komplett. Das Bild von einer Farbe, nach der wir uns immerzu sehnen, auch wenn wir ahnen, dass wir ihr nicht immer grün sein sollten.

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