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Affäre mit Zwillingen. Marine Vacht als Chloé mit Jérémie Renier, der beide männlichen Hauptrollen spielt.

© Weltkino

François Ozons „Der andere Liebhaber“: Von der Couch in den Kopf

Sex und Psychohorror: In „Der andere Liebhaber“ spielt François Ozon selbstironisch mit filmischen Verweisen und psychologischen Symbolen.

Von Andreas Busche

Kino bedeutet Schauen, aber immer auch Beobachten. Die Grenzen zwischen Neugier und Voyeurismus verlaufen im dunklen Kinosaal oft fließend. Die größten Regisseure verstanden sich stets darauf, ihre Zuschauer unbewusst mit ihren Obsessionen und ihrer Schaulust zu konfrontieren. Alfred Hitchcock etwa war ein meisterlicher Manipulator – nicht nur seiner oftmals bedauernswerten Darstellerinnen, sondern gerade seines Publikums.

François Ozon lässt gleich in der Eröffnungseinstellung von „Der andere Liebhaber“ keine Zweifel daran, dass er das Publikum als Komplizen betrachtet. Sein Film beginnt mit einem extremen Close-up auf eine feuchte, pulsierende, rosa Körperöffnung, die in dieser Direktheit zunächst abstrakt wirkt. Ein offenes Herz? Eine Zahnbehandlung? Erst der Zoom aus der Naheinstellung offenbart dem Betrachter, in was er oder sie da gerade starrt: Man blickt mit einer Gynäkologin in die weit geöffnete Vagina der Hauptdarstellerin Marine Vacth, die schon in der seltsam in sich gebrochenen Männerfantasie „Jung & schön“ von 2013 für den französischen Regisseur vor der Kamera stand. Bei der Premiere in Cannes war die spontane Publikumsreaktion unsicheres Lachen, man fühlte sich bei etwas sehr Intimen ertappt, ohne dass man sich dieses Ausgesetztseins entziehen konnte. Ozon macht das Publikum mit seiner male gaze zum Komplizen wider Willen.

Es ist ein gewagtes Manöver, auf das sich Ozon mit dieser Eröffnung einlässt, er etabliert früh im Film eine enorme Fallhöhe für seine Geschichte. Interessanterweise bleibt er dem Spekulativen auch im weiteren Verlauf von „Der andere Liebhaber“ treu, das Lachen (der Überrumpelung? der Scham? der Erregung?) ist durchaus intendiert. Die Szene auf dem Gynäkologenstuhl hat dabei überhaupt nichts Pornografisches, es ist vielmehr dem Betrachter überlassen, welche Empfindung der tiefe Blick bei einem selbst auslöst.

Jede Szene läuft auf ein prägnantes Bild hinaus

Die Intimität bleibt ein Fragment. Bevor das Bild zu explizit wird, verwandelt sich die Vulva in das Auge von Vacth – eine Überblendung, die in ihrer metaphorischen Plumpheit selbst schon obszön erscheint. Ozon beschreitet in „Der andere Liebhaber“ also einen äußerst schmalen Grat. Der Franzose ist bekannt für sein cinephiles Bewusstsein, kaum ein anderer Autorenfilmer weist ein so vielseitiges Oeuvre auf. Aber noch nie hat Ozon offenkundiger mit filmischen Verweisen und psychologischen Symbolen hantiert.

Vacth spielt Chloé, ein 25-jähriges Ex-Model am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie leidet unter permanenten Bauchschmerzen und einer pathologischen Angst vor körperlicher Nähe. Ihre Ärztin schickt sie zu dem Therapeuten Paul Meyer, gespielt vom Dardenne-Darsteller Jérémie Renier, der in seinen gemütlichen Pullovern kaum wiederzuerkennen ist. „Verlieb dich bloß nicht in sie!“ ist der erste Gedanke, den er beim Anblick der fragilen jungen Frau hatte, erklärt er Chloé später. Aber genau so kommt es.

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Für die Therapiesitzungen, mit denen Ozon Chloés Bekenntnisse in einer eleganten Montage ineinanderschneidet (sie erweist sich als perfekte Fallstudie für jeden Psychiater), den ersten Kuss und den Einzug in die gemeinsame Wohnung benötigt „Der andere Liebhaber“ keine Viertelstunde. Ozon erzählt so ökonomisch, dass schon bald klar ist, wie wenig ihn eine psychologische Charakterstudie interessiert. Jede Szene läuft auf ein prägnantes Bild hinaus – ikonisch, überstilisiert, stereotyp, referentiell. Und immer stellt Ozon auch sein Wissen um die Konnotation der Bilder aus: die spiralförmige Wendeltreppe im Hausflur des Psychiaters, die Spiegelbilder, die Einstellung von Chloé zwischen großformatigen Kunstwerken (sie nimmt einen Job als Ausstellungswärterin an). So wie die junge Frau in den kühlen Räumlichkeiten zum Exponat wird, gefällt sich auch Ozon im Zurschaustellen.

Ozon hat Lust am Camp und an der Kolportage

Die filmischen Bezüge in „Der andere Liebhaber“ stammen aus dem Horrorfilm sowie dem kurzlebigen Genre des erotischen Psychothrillers, der seinen Höhepunkt in den frühen Neunzigern hatte. Motivisch stehen David Cronenberg und Brian de Palma Pate, letzterer selbst des Hitchcock-Plagiats nicht unverdächtig. Ozon hat sichtlich Lust am Camp und an der Kolportage, als wäre sein Film eine unmittelbare Replik auf das beinah klassizistische Meisterwerk „Frantz“.

Das traumatische Doppelgänger-Motiv des Vorgängers spitzt Ozon in „Der andere Liebhaber“ noch einmal grotesk zu. Auf der Straße begegnet Chloé Louis, der Paul zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie bucht eine Sitzung bei ihm (er ist ebenfalls Psychiater) und beginnt zwischen den äußerlich identischen, ansonsten aber komplett unterschiedlichen Männern den Verstand zu verlieren. „Wenn ich bei Dir bin, möchte ich bei ihm sein“, gesteht sie Louis, „wenn ich bei ihm bin, will ich bei Dir sein.“ Ozon findet auch für dieses Dilemma ein denkwürdiges Bild, einen „siamesischen Vierer“ mit Vacth und Renier: so absurd lächerlich, dass einem die Kinnlade runterklappt . Sex und Horror – in „Der andere Liebhaber“ trennt sie manchmal nur ein Schnitt.

In 12 Berliner Kinos; OmU: Bundesplatz, Central, Cinema Paris, Eiszeit, Kulturbrauerei, Moviemento, Xenon, Zukunft

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