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Held des Rückzugs: Michail Gorbatschow 1989.

© AFP/Vitaly Armand

Buch von Wolfgang Schivelbusch: Vom Rückzug zur Exit-Strategie

Tabu in einer Welt des Fortschritts: Der Publizist und Historiker Wolfgang Schivelbusch untersucht die mehr oder weniger hohe Kunst des Rückzugs.

Vor dreißig Jahren, den Zusammenbruch des Ostblocks vor Augen, dachte Hans Magnus Enzensberger einen seiner klugen Gedanken. An die Stelle des Helden, der von Sieg zu Triumph eilt, schrieb Enzensberger in einem Essay, sei ein Typus getreten, der sich auf den lebensrettenden Verzicht versteht: ein Spezialist des Abbruchs und der Demontage. Die perfekte Verkörperung dieses „Helden des Rückzugs“ sah er in Michail Gorbatschow, der damals dabei war, ein gewaltiges Imperium ganz ohne Krieg und Gewalt erlöschen zu lassen. Doch auch den westlichen Demokratien sagte Enzensberger unerlässliche Rückzüge voraus.

Nun hat sich Wolfgang Schivelbusch dem Rückzug gewidmet. Seine Studie könnte Enzensbergers Andeutungen ausformulieren, mit Stoff und Argumenten füllen. Immerhin erklärt das Vorwort des schmalen Bandes die Rückwärtsbewegung für inkompatibel mit der Moderne und sieht doch den gesamten Westen auf dem Rückzug. Schivelbusch ist zweifellos der richtige Autor fürs Thema – nicht nur wegen seines Buchs über „Die Kultur der Niederlage“ von 2001. Auch seine Geschichte der Eisenbahnreise (seit vier Jahrzehnten ein Standard der Forschung), die Studien zur künstlichen Beleuchtung im Alltag oder zur Geschichte der Konsumtion weisen ihn als versierten Kreuz- und Querdenker und anregenden Mentalitäts- und Kulturhistoriker der Bundesrepublik aus.

Schivelbusch liefert erhellend Anekdotisches

Wenn eine offensive Bewegung, erklärt Wolfgang Schivelbusch, auf einen überlegenen Widerstand trifft, dann droht die Niederlage – es sei denn, man entscheidet sich zum Rückzug. Im Unterschied zur passiv erlittenen Niederlage oder dem Getriebensein der Flucht ist der Rückzug eine selbstbestimmte Handlung. Wie diese rationale Option in Verruf geriet oder schlechterdings verunmöglicht wurde, lässt Schivelbusch anhand markanter Daten der Militärgeschichte Revue passieren.

Dieser Revue zufolge bot die ins revolutionäre Frankreich einmarschierte preußische Invasionsarmee nach der „Kanonade von Valmy“ 1792 letztmalig das Bild eines geordneten Rückzugs, wie es die neuzeitlichen Kabinettskriege geprägt hatten. Schon ein Jahr später aber musste der französische Revolutionsgeneral Jean-Nicholas Houchard die Guillotine besteigen – weil er den Rückzug englischer Truppen zugelassen hatte, statt sie zu verfolgen und zu vernichten.

Was war geschehen? Die Französische Revolution hatte mit der Abschaffung des professionellen Söldnerheers und der Implementierung einer neuen Armee, die sich als „Nation in Waffen“ verstand, den Rückzug zu einer Frage der nationalen Ehre gemacht. Fortan galt die Doktrin der Vernichtungsschlacht – und der Rückzug als (Landes-)Verrat. Vor diesem Hintergrund diskutiert Schivelbusch Napoleons verspäteten und desaströsen Rückzug aus Russland 1812, die Marne-Schlacht im Ersten Weltkrieg, den englischen Abzug aus Dünkirchen im Zweiten Weltkrieg und schließlich den euphemistisch als „Disengagement“ bezeichneten Rückzug der Vereinigten Staaten aus Vietnam.

Schievelbusch liefert erhellend Anekdotisches: etwa zu Napoleons Plänen eines Marschs nach Indien oder zu mythologisierten Rückzügen als Voraussetzungen späterer Siege. Er liefert Aufschlussreiches zu Clausewitz’ Theorie von den Vorzügen der Verteidigung und der Überlegenheit des Gegenangriffs oder zum geopolitischen Zusammenhang von amerikanischem Frontier-Denken und der Rückzugsphobie in Bezug auf den asiatischen Raum.

Das konzeptionelle Gerüst passt auf fünf Seiten

Was er kaum liefert, sind grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang von Rückzugstabu und Modernität oder Fortschritt. Da stellen sich viele Fragen: Wie lässt sich die rationale Rückzugspraxis in feudalen Verhältnissen und die irrationale (Selbst-)Vernichtung unter modern-kapitalistischen – also vermeintlich berechenbaren – Umständen deuten? Welche Dynamiken entstehen in Zeiten eines problematischen Konzepts der Nation, wenn das Rückzugstabu an einen nationalen Gesichtsverlust gekoppelt ist?

Hätte Schivelbusch nicht vorausschauend eingeschränkt, das Verhältnis von westlichem Fortschrittstrieb und Rückzugserfahrung „am militärischen Beispiel“ abzuhandeln, dann wäre die Enttäuschung groß. Tatsächlich passt das konzeptionelle Gerüst auf fünf Seiten – der Rest ist Militärgeschichte.

Andere Rückzugsfelder, die Schivelbusch mit Politik, Religion, Ökonomie, Technik oder Kultur auflistet, spielen keine Rolle. Das ist misslich. Zumal es nicht klärt, was den Westen, der den ihm verbotenen Rückzug längst zur akzeptablen „Exit-Strategie“ umgedeutet hat, um seinen Kontrollverlust zu verschleiern, heute zu diesem Rückzug drängt. Enzensberger hatte bereits ein paar gute Gründe für die Praxis der rationalen Risikominimierung zu bieten. Der „schwierigste aller Rückzüge“, schrieb er, „steht in jenem Krieg bevor, den wir seit der Industriellen Revolution gegen unsere eigene Biosphäre führen.“ Das war vor dreißig Jahren. Doch es klingt, als sei’s ein Stück von heute.

Wolfgang Schivelbusch: Rückzug. Geschichten eines Tabus. Hanser Verlag, München 2019. 112 Seiten, 18 €.

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