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Kultur: Völlig losgelöst

Im Kraftwerk klingt selbst Lärm erhaben: Beim Atonal-Festival triumphiert die Avantgarde.

Was ist atonal? Jon Hassels Trompete, deren lyrischer Ton einen einwickelt wie ein flauschiger Frotteebademantel? Das Gitarrenklingeln von Glenn Branca, das wie tausend Maikäfer über den Rücken krabbelt? Das dunkle Endzeitrauschen von Roly Porter, das schaurig die Synapsen streichelt – all das soll atonal sein?

Ja, das passt schon irgendwie zu diesem von Alban Berg entlehnten Begriff, den die Veranstalter vor dreißig Jahren freimütig als eine Art Manifest formuliert haben: „Atonal ist selber hören, die Freiheit, eigene Gedanken und Urteile zu bilden und nicht in das miese, vorgefertigte System der Idioten einzusteigen.“ Das riskante Experiment, das auch mal scheitern darf, dessen Impuls aber wesentlich ist für die Entwicklung neuer Musik – das war schon damals der wichtigste Akt, der die Künstler verband, die von 1982 bis 1990 beim legendären Berliner Atonal-Festival auftraten. 1999 gab es einen Revival-Versuch mit den Einstürzenden Neubauten auf dem Arena-Gelände, doch erst jetzt scheint die Zeit reif zu sein für einen Neustart, auch weil sich inzwischen mit dem Club-Transmediale ein Musikfest etabliert hat, das die Stadt im Februar an der Schnittstelle von experimenteller Musik und Clubkultur in Atem hält.

Warum sollte man da nicht nachlegen und die sommerlich träge Stadt zum Vibrieren bringen? Zumal der Festivalgründer und spätere Tresor-Chef Dimitri Hegemann endlich das passende Gebäude für die Umsetzung seines atonalen Traums gefunden hat: das stillgelegte Heizkraftwerk Mitte in der Köpenicker Straße, eine Industrie-Kathedrale aus Stahl und Beton, die seit 2007 auch den Tresor-Club beherbergt. Mit dreißig Meter hohen Decken, verschiedenen Ebenen und verwinkelten Räumen ist das gewaltige Gebäude der ideale Ort für das multimediale Festival, das an sechs Tagen neben 40 Konzerten auch kinetische Kunstobjekte präsentiert, die in dunklen Ecken pfeifen und scheppern.

Die Veranstalter haben ein beachtliches Programm auf die Beine gestellt, das alte Helden mit jungen Hoffnungsträgern zusammenbringt. So ist es auch ein Alt-82er, der den Anfang macht: Frieder Butzmann, der einzigartige Unterhalter, immer wieder ergreifend und lustig. Mit Volldampf heizt er dem Publikum ein: „Fümms bö wö tää zää Uu! Und jetzt alle: Tuii Tuii Tuii!“. Welch herrliche Idee, das Festival mit der „Ursonate“ von Kurt Schwitters zu beginnen, diesem Dada-Meisterstück, das wie nichts anderes von Kompromisslosigkeit und dem Beharren auf einer eigenen Sprache geprägt ist.

Das dürfte auch dem 64-jährigen New Yorker Gitarrenkrachsymphoniker Glenn Branca gefallen haben, der danach sein Ensemble durch sein neues Werk „Twisting In Space“ dirigiert, das sich in mehreren Sätzen mit schräg gesetzten Riff-Attacken hochschaukelt, mit vier Gitarren, Bass und Felsengewitterdrums. Branca ist heute wie ein alter Film von Orson Welles: immer noch atemberaubend, aber auch nicht mehr taufrisch.

Dem physischen Grenzgang der Kraftmeierei setzt der 75-jährige Trompeter Jon Hassell am nächsten Tag die Intensität der lyrischen Synthese entgegen. Weit entfernt scheint die Welt der ratternden Großstadt, als sein Quartett einen hermetischen Raum zum Wegdriften aufklappt, mit erdigem Dub-Bass, flirrender Geistergitarre, sehr schöner Violine und Hassells langgezogenem Ton, der das Publikum in eine Zwischenwelt voller Zwielicht und Nebel entführt, in der sich die Unschärfe immer wieder in magischen Momenten verdichtet. Wer danach kommt, hat’s schwer, doch die hypnotisch kühle Science-Fiction-Inszenierung im klassisch verdubbten Berlin-Detroit-Techno-Stil von Juan Atkins und Moritz von Oswald gerät zur berührenden Entdeckung neuer Sounds im alten Ton.

Ein weiterer Höhepunkt ist der Auftritt des italienischen Newcomer-Duos Voices From The Lake, deren Ambient-Techno wie eine frisch geölte Nähmaschine rattert, mit schwebenden Bässen und Samples, während dazu balinesische Tempeltänzerinnen und andere schöne Videobilder über eine riesige Leinwand flimmern. Auch bei Murcof spielt der visuelle Input eine wesentliche Rolle. Zu tanzenden Schwarz-Weiß-Abstraktionen des belgischen Videokünstlers Simon Geilfus entwirft der mexikanische Klangforscher elegische Soundscapes fürs Kopfkino, die manchmal eine Spur zu kitschig sind.

Im Gegensatz dazu wird am Sonntag richtig Lärm gemacht, böser, dunkler Krach von Russell Haswell und anderen Vertretern der Label Contort und Blackest Ever Black, die mit grimmiger Entschlossenheit eine Energie freisetzen, die das Zerbersten als glücklichen Zustand und äußerste Form musikalischer Befreiung feiert – mit nervös pochenden Bratzgewittern, fiesen Schleifgeräuschen und dröhnenden Monsterbässen. Mittendrin die verschleppten Beats vom Londoner Post-Dubstep-Duo Raime, deren schaurig-schönes Hämmern eine echte Erholung ist, bevor William Bennett von der Bürgerschreck-Legende Whitehouse mit seinem Projekt Cut Hands das tobende Zischen rastloser Afrotrommeln in ekstatische Zustände treibt.

Das alles passt natürlich ganz wunderbar hierher und macht noch einmal deutlich, das dieses mitreißende Festival seine Kraft auch dem Geist des Ortes verdankt. Die Größe des Raumes und die Fülle der Musik bringen die Wahrnehmung aus dem Gleichgewicht, öffnen Bereiche des Unterbewussten beim Umherwandeln im ehemaligen Heizkraftwerk, das die Stadt nun mit atonaler Energie versorgt. Und niemand muss sich wundern, wenn die Musik, die dabei entsteht, mehr mit Dampframmen und Schleudertrommeln zu tun hat als mit Rosenzucht und Butterblümchen. Schließlich wanken seit jeher die Mauern der Stadt, wenn die Musik sich ändert.

Kraftwerk Berlin, Köpenicker Str. 70. Das Atonal-Festival wird noch bis Mizzwoch fortgesetzt. Am Dienstag treten unter anderem Actress und Francesco Tristano auf. Am Mittwoch spielen das Brandt Bauer Frick Ensemble und der Industrialpionier Z’ev, der schon vor 30 Jahren in den Pankehallen dabei war.

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