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Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe": Viren sind schlau

Judith Schalansky gibt in „Der Hals der Giraffe“ Biologieunterricht und erzählt die Lebensgeschichte einer Lehrerin nach der Wende

Alles, was zugrunde geht, hat es auch verdient. Die Kleinstadt in Vorpommern beispielsweise, in der Inge Lohmark als Lehrerin für Biologie und Sport tätig ist. Wer jung ist, geht weg von hier, so wie Claudia, Inges einzige Tochter. Die ist mittlerweile in Kalifornien. Am ersten Schultag nach den Sommerferien sitzen gerade noch zwölf Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse vor Inge Lohmark. Wenn die das Abitur hinter sich haben, wird der Laden dichtgemacht und von der Volkshochschule übernommen. Eine Mischung aus postsozialistischer Tristesse und Zynismus bestimmt das Klima. Und Inge Lohmark ist die Protagonistin dieser Stimmungslage.

Nach zwei Seiten weiß man, wohin der Hase, wenn auch in Zickzackhaken, in „Der Hals der Giraffe“ läuft, Judith Schalanskys viel beachtetem Roman, der sogar auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand: Das Gymnasium ist das Charles-Darwin-Gymnasium – kein sonderlich origineller Einfall, offen gesagt. Und gleich im zweiten Absatz heißt es: „Die wichtigsten Formen des Zusammenlebens sind Konkurrenz und Räuber-Beute-Beziehung.“ Damit ist Inge Lohmarks Weltbild in den Roman gestellt; dort bleibt es stehen. So flexibel und anpassungsfähig die Natur sein mag, der Lohmarks ganze Bewunderung und Hingabe gilt, so lange sie sich in biologische Gesetzmäßigkeiten fassen lässt, so starr und unbeweglich bleibt die Konstruktion des Romans, in dem vieles angerissen wird (Klimawandel, Überalterung der Gesellschaft), aber sehr wenig bis nichts geschieht.

Der antidarwinistische Impetus des Romans begründet sich in der Person des sozialdarwinistischen Monsters Lohmark, die ihre Schüler als natürliche Feinde betrachtet und als einziges Gesetz das Recht des Stärkeren akzeptiert. Und das ist im Zweifelsfall immer sie selbst.

Dass sich dahinter ein gigantischer Berg unbewältigter Lebensprobleme verbirgt, versteht sich beinahe von selbst: persönliche Beziehungen, das ungeklärte Verhältnis zur Tochter, die kühle Distanz zu ihrem Ehemann und zu allem Überfluss auch noch eine mehr als nur latente erotische Anziehungskraft, die eine ihrer Schülerinnen auf sie ausübt. Und dass Judith Schalanskys Antiheldin irgendwann einmal als Informantin für die Staatssicherheit gearbeitet, nach eigener Überzeugung damit aber niemandem geschadet hat, wohl auch. Inge Lohmarks radikaler Biologismus ist ihr Panzer gegen die eigene Verletzbarkeit. Gleichzeitig ist all das selbstverständlich auch als eine Parabel auf die politischen Zustände im vereinigten Deutschland zu lesen. Die Landschaften blühen anderswo. Und was anderes ist der Kapitalismus, der die ostdeutschen Landschaften hat veröden lassen, als Darwinismus in Wirtschaftsform?

„Der Hals der Giraffe“ ist eine Art von innerem Monolog. Die Perspektive ist auf Inge beschränkt. Im Stakkatostil wird jeder Vorgang beobachtet, eingeordnet, kommentiert. Meistens bösartig. Oft auch grausam: „Der Enddarm war nun mal kein Geschlechtsorgan. Die Schwulenkrankheit. Es war wirklich das klügste aller Viren. Seine Taktik war geradezu genial. Dass es ausgerechnet das Immunsystem angriff, das den Körper vor Infektionen schützen sollte. Ein Thriller. Der Feind in meinem Bett.“ Das ist politisch unkorrekt, faktisch abgesichert und hat auf kurzer Strecke durchaus seinen Reiz. Doch irgendwann bemerkt man, dass Judith Schalanskys literarische und sprachliche Mittel bei aller naturwissenschaftlichen Genauigkeit und bei allem biologischen Vokabelreichtum relativ begrenzt sind. Hinzu kommt eine nicht unbeträchtliche Schludrigkeit. Wenn etwas nicht programmiert, sondern „vorprogrammiert“ ist, wenn „Graffitis“ überpinselt werden und nicht Graffiti, mag man das gerade noch so als Rollenprosa gelten und so stehen lassen. Spätestens aber wenn jemand die „Iniative“ ergreift, ist Schlampigkeit am Werk.

Die Gattungsbezeichnung „Bildungsroman“ ist irreführend: Eine Entwicklung findet nicht statt, wohl aber eine Unterrichtung der Leser. Der Gegensatz zwischen Instinkt und Bildung ist dem Roman ebenso eingeschrieben wie der Gedanke, dass letztendlich nur die gröberen und simpleren Formen eine Chance auf das Überleben haben. „Der Hals der Giraffe“ ist ein besonders schönes, liebevoll gestaltetes Buch mit geprägtem Leineneinband, aufwendigen Zeichnungen von Quallen, Vogelschwärmen, Kühen oder Föten, die die Seiten auflockern. Dazu kommt eine fortlaufende Kurzbeschreibung der gerade behandelten Themen am Kopf einer jeden Seite. Ein Lehrbuch, nicht stark genug, um den strengen Bücherwinter zu überleben.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman.

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2011.

222 Seiten, 21,90 €.

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