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Überflieger. Bassist Stephan Crump und Drummer Marcus Gilmore mit Vijay Iyer (von links).

© Jimmy Katz

Vijay Iyer und sein Album "Break Stuff": Die Formeln der Freiheit

Jenseits aller Klischees: Jazzpianist Vijay Iyer hat mit seinem Trio das meisterhafte Album „Break Stuff“ eingespielt, das mühelos einen Bogen zwischen Club und Konzertsaal schlägt.

Von Gregor Dotzauer

Unter dem Namen @JazzIsTheWorst twittert ein hellsichtiger Witzbold regelmäßig so ziemlich das Böseste, was sich über Amerikas einzige ursprüngliche Kunstform sagen lässt. „Warum zu Hause masturbieren, wenn ich in aller Öffentlichkeit ein zehnminütiges Saxofonsolo spielen kann“, fragt er etwa. Und besteht die Freiheit des Jazz in etwas anderem als der Chance, „sich in denselben Licks auszudrücken, die in den letzten 100 Jahren jeder drauf hatte“? Um die formale Abwechslung steht es in seinen Augen nicht besser: „Melodie, Solo, Solo, Solo, Melodie. Jedes…verdammte…Mal.“ Immerhin mag er Schlagzeugsoli – „wenn auch nur, weil sie alle anderen Musiker auf der Bühne zum Aufhören bewegen.“ Jazz, so kann man die gut 400 Tweets zusammenfassen, ist eine selbstgefällige, überhebliche, wichtigtuerische Musik, die genau deshalb kein Schwein interessiert: „Jazzstudenten erkennen gewöhnlich spätestens 24 Stunden nach ihrem Examen, dass Jazz tot ist.“

Soviel Verachtung kann eigentlich nur aus wahrer Liebe zu dieser Musik entstehen. Die tiefe Kenntnis ihrer Klischees, Rituale, Moden und Imponiergebärden spricht außerdem dafür, dass es sich bei @JazzIsTheWorst selber um einen Musiker handelt, dem zwischen Bebop und Free Jazz nichts heilig ist. Warum nur tritt er auch alles in die Tonne, das sich den Üblichkeiten entzieht? Wenn es einen geben sollte, der Gnade vor seinem Rundumschlag findet, dann zumindest der 43-jährige New Yorker Pianist Vijay Iyer. Aber auch er bekommt sein Fett weg, und zwar an seinen persönlichen TwitterAccount: „Du verkörperst eine neue Generation von Jazzmusikern, die besser darin ist, Stipendienanträge zu schreiben als bezwingende Kompositionen.“

Man sollte zu Gunsten dieses grenzenlosen Sarkasmus annehmen, dass seine kritische Wahrhaftigkeit – neben dem unbezweifelbaren Unterhaltungswert – in der Karikatur eines Neides liegt, der auch höchstbegabte Musiker angesichts ihrer brotlosen Kunst immer wieder packen kann. Ein alter Witz lautet in unvermindert aktueller Bitterkeit: Wie nennt man einen Jazzer, der bei seiner Freundin rausgeflogen ist? Einen Obdachlosen.

"Downbeat" hat Vijay Iyer zum Pianisten des Jahres gewählt

Vijay Iyer ist dagegen die strahlende Ausnahme eines mit Preisen und Fellowships überhäuften, in zahlreichen, auch multimedialen Projekten engagierten und seit einem Jahr sogar mit einer Harvard-Professur ausgestatteten Improvisationstheoretikers und Praktikers, der sich eher um seinen Schlaf als um sein Auskommen sorgen muss.

Das Magazin „Downbeat“ hat ihn gerade erneut zum Pianisten des Jahres gewählt, und mit dem Auftragswerk „Mutations“, einer Suite für Klavier, Streichquartett und Elektronik, hat er sich nicht nur in eine Zwischenwelt von Neuer Musik und Free-Avantgarde auf den Spuren seines Förderers Roscoe Mitchell vom Art Ensemble of Chicago begeben. Er ist damit in den Olymp der Jazzlabels, zu Manfred Eichers Münchner Firma ECM aufgerückt, wo auch die DVD mit seiner Filmmusik zu Prashant Bhargavas „Radhe Radhe: Rites Of Holi“ erschienen ist: eine bewegte Dokumentation des hinduistischen Holi-Fests im nordindischen Mathura aus dem Geist von Strawinskys und Nijinskys Ballett „Sacre du printemps“ – und ein Tribut an die familiäre Herkunft der beiden in den USA geborenen Künstler.

Es ist im Jahr 2015 also alles andere als originell, auf Vijay Iyers Talente hinzuweisen. Es ist aber auch alles andere als überflüssig, nachdem sein Name über die Kreise eines hart gesottenen Jazzpublikums, das mindestens so autistisch wirkt wie ein Klassikpublikum, das schon vor Béla Bartók die Flucht ergreift, kaum hinausgedrungen ist. Dabei besitzt seine Musik eine Offenheit, die sich in ihrem ureigenen Idiom jeden Stil anverwandeln kann, ohne sich dem jeweiligen Publikum an den Hals zu werfen.

Die Musik schlägt einen Bogen vom Club zum Konzertsaal

Das gilt für sein Trio mit Bassist Stephan Crump und Drummer Marcus Gilmore mehr als für sein Sextett oder „Holding It Down: The Veterans’ Dreams Project“, seine Arbeit mit dem SpokenWord- Poet Mike Ladd über die Traumata von Kriegsheimkehrern aus dem Irak und Afghanistan. Denn das seit elf Jahren bestehende Trio ist Iyers am besten eingespielte Formation und so etwas wie das Labor, in dem er die unterschiedlichsten Einflüsse miteinander reagieren lässt, auch wenn drei der schönsten, Vögeln gewidmete Stücke seines neuen Albums „Break Stuff“ skelettierte Fassungen von Kompositionen für ein 20-köpfiges Ensemble sind, zu denen er sich von Teju Coles Roman „Open City“ anregen ließ – mit dem Autor auf der Bühne.

Wenn Iyer in „Hood“ dem Detroiter Minimal Techno von Robert Hood huldigt, geht es nicht um die akustische Imitation elektronischer Grooves wie bei Brandt Bauer Frick, sondern um die motivische Nutzbarmachung kleinster Intervall- und Rhythmusverschiebungen in einem Spiel von Beschleunigung und Verlangsamung, wie es Iyer mit seinem Trio schon auf dem letzten, noch bei ACT erschienenen Album „Accelerando“ betrieb. Und wenn er in „Mystery Woman“ ein Rhythmus-Pattern der karnatischen Mridangam-Virtuosin Rajna Swaminathan instrumentiert, ist er jedem erkennbaren Weltmusik-Crossover so fern, wie er dem Überlagerungsflirren einiger Kompositionen von György Ligeti nahe steht. Iyers Musik schlägt bruchlos den Bogen zwischen Club und Konzertsaal, Komposition und Improvisation – und verfügt bei alledem über eine lustvollen Körperlichkeit, deren organische Selbstverständlichkeit sich nur noch dadurch steigern lässt, dass man live erlebt, mit welcher anstrengungslosen Eleganz Marcus Gilmore seine polyrhythmischen Feuer legt, Stephan Crump Ostinati in Bewegung hält und Vijay Iyer aus dem Gewirr der Linien klar Artikuliertes herausmeißelt.

Drummer Marcus Gilmore und Bassist Stephan Crump wie ein reißender Strom

Das Ausgangsmaterial ist dabei oft von formelhafter Sprödheit, kommt aber außer in den traumweiten Vogelstücken gewöhnlich schnell in Fahrt. „Taking Flight“ beginnt mit einer Folge auf dem Klavier Ton für Ton hingetupfter Quinten, die die Tastatur hinaufwandern und dann die Tastatur hinunter, bevor sich Nebentöne einschlechen und kleine Tonwirbel, in die sich erst das Schlagzeug einschaltet und wenig später der Bass, bis sich das Ganze nach und nach in einen reißenden Strom verwandelt.

Mit der klassischen Thema-Solochorus-Thema-Dramaturgie hat das alles nichts mehr zu tun. Es ist ein Kollektivereignis, das sich als Fortsetzung eines afroamerikanischen Erbes versteht. Am konventionellsten klingt es noch in Iyers Soloversion von Billy Strayhorns „Blood Count“. Schon John Coltranes „Countdown“ wird zu einer Kenntlichkeit zerrupft, in der Schwung und analytischer Zugriff kein Widerspruch sind. Nicht zufällig nennt Iyer die dissonanten Ecken und Kanten von Thelonious Monk als sein pianistisches Erweckungserlebnis. Er baut sie, wie „Work“, eine Komposition des Meisters, zeigt, nur sehr viel virtuoser, abwechslungsreicher und jenseits ihrer funktionsharmonischen Stör- und Überraschungseffekte ein.

Die Strukturen sind bis zu Signaltönen reduziert

Es wäre verlockend, daraus ein Verblassen der lange prägenden europäisch-impressionistischen Klaviertradition abzuleiten, wie man es auch für den passionierten Monkianer Jason Moran beanspruchen könnte, mit dem Iyer am Bostoner New England Conservatory im vergangenen September eine aufschlussreiche Masterclass abhielt (dokumentiert auf YouTube). Schon auf Craig Taborn, den anderen bedeutenden Kollegen aus seiner Generation, mit dem er gelegentlich Duos spielt, würde es nicht mehr zutreffen. Die beiden finden in einer Kunstmusik zusammen, in der solche Unterscheidungen keinen Sinn mehr ergeben – abgesehen davon, dass die hallige, jeden konkreten Raum auflösende Tiefenstaffelung des ECM-Klangideals jede Musik auf ein fragiles europäisches Terrain zurückholt.

Weiter kommt man mit der Behauptung, dass sie alle nur aus verschiedenen Richtungen mit den ermüdenden Routinen des Compings, also den Einwürfen der linken Hand, die die Akkordfortschreitungen eines Stückes definieren, aufgeräumt haben. Schon Herbie Hancock fing bei Miles Davis damit an, diese Einwürfe offener und vieldeutiger anzulegen – wenn er sich nicht gleich auf die linke Hand setzte, um jeder Versuchung zu widerstehen, sie zu benutzen. Vijay Iyer würde sich auch auf klassisches Comping verstehen. Er will es nur nicht. Mit den ausgedünnten, bis zu reinen Signaltönen reduzierten Strukturen, denen sich auch die rechte Hand zuweilen unterwirft, hat er ein Vokabular geschaffen, das auf „Break Stuff“ in seinem ganzen Reichtum zu hören ist und im Rahmen einer dramaturgischen Geschlossenheit aufleuchtet, wie sie kein anderes seiner Alben besitzt.

„Break Stuff“ ist bei ECM erschienen. Am 18. März tritt das Vijay Iyer Trio im Heimathafen Neukölln auf.

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