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Schweben ist schöner. Der Künstler Sebastian Stumpf nähert sich dem legendären „Daybed“ von Mies van der Rohe – eine Fotoarbeit von 2008.

© Stumpf/Mies van der Rohe Haus

Ausstellung im Mies van der Rohe Haus: Verweile doch

Vom Sitzen und Liegen: Das Mies van der Rohe Haus widmet sich dem dazugehörigen Mobiliar.

Leicht zur Raummitte versetzt steht es da. Das Daybed. Es dominiert den Raum. Knapp ein mal zwei Meter in der Fläche, etwa einen halben Meter über dem Boden, das dicke Polster mit feinem Leder bezogen, in einem warmen Dunkelgrau. Die Ausstellungsbesucher im Mies van der Rohe Haus in Hohenschönhausen schleichen andächtig um den Möbelklassiker herum, 1929 vom namensgebenden Architekten der kleinen Villa entworfen. Bequem sieht er aus, aber sich auf ein Ausstellungsstück setzen?

Nach längerem Zögern der Entschluss: zwei Schritte, eine vorsichtige Drehung, und man senkt sich auf das weiche Polster. Sanft gibt es nach, die Oberschenkelmuskeln entspannen sich und langsam steigt ein wohliges Gefühl auf. Selten so bewusst gesessen!

Dabei sitzen wir viel. Täglich sieben bis acht Stunden verweilt der Durchschnittsdeutsche auf seinem Gesäß und macht seinem Körper damit wahrlich keine Freude. Seit einigen Jahren setzt sich die Erkenntnis durch, dass mehr als sechs Stunden am Tag schädlich sind. Entsetzt liest man immer wieder: Sitzen sei das neue Rauchen, weil an den Folgen fast doppelt so viele Menschen sterben wie an Zigaretten. Auch die deutsche Sprache ist förmlich durchsetzt mit Ableitungen des Wortstamms „setzen“. Man könnte meinen, die Deutschen wären besessen.

Vielleicht sollten wir einfach mehr ruhen, so wie es im Mies van der Rohe Haus möglich ist? Nach dem Motto, weniger sitzen, aber dafür bewusster. Oder wie Mies als letzter der drei Bauhaus-Direktoren sagte: Weniger ist mehr.

van der Rohe konzipierte Sessle für einen Standort abseits der Wand

Ist nicht jeder Stuhl auch eine Skulptur? An diesem Freitagnachmittag haben die Kuratoren des Hauses eine Sitzung anberaumt – ein Symposium zum Thema Sitzen und Liegen. Jan Maruhn geht der Frage der Skulpturhaftigkeit von Sitzmöbeln nach, zieht dabei aufschlussreiche Parallelen von den Sitzmöbeln von Mies und Le Corbusier zu Exemplaren aus dem Rokoko. Er fragt: Wer hat eigentlich beschlossen, dass Sofas an der Wand stehen sollen? Niemand. Und doch drängen die meisten Couches dorthin, zumindest in Deutschland. „In Frankreich und vor allem im angelsächsischen Bereich stehen die Sofas oft mitten im Raum. Denken Sie an amerikanische Sitcoms. Direkt hinter der Eingangstür finden sich immer zwei, manchmal sogar drei.“ Neben der traditionellen Prägung sorgen allerdings auch kleine Zimmergrößen für eine gewisse Alternativlosigkeit. Mies und auch sein schweizerisch-französischer Kollege Le Corbusier konzipierten ihre Sessel dagegen für einen Standort abseits der Wand. Das macht sie Skulpturen sehr ähnlich.

Dass auch das Daybed weder an die Wand noch in die Ecke gequetscht funktioniert, zeigte Werner Möller in seinem Vortrag über Mies’ Möbelklassiker und seine Geschichte. An seinem Ausstellungsplatz in dem lichtdurchfluteten Raum in Hohenschönhausen strahlt es hingegen. Schräg gegenüber hat der Künstler Sebastian Stumpf ein Videostandbild aus seiner Arbeit „Wasserbecken“ auf die Wand gemalt. Er selber liegt darin in einem Becken vor einem großen Geschäftsgebäude. Bild und Daybed treten in ein spielerisches Verhältnis zueinander, denn Stumpf nimmt die gleiche liegende Haltung ein, wenn auch in einer ungewöhnlichen Situation. Einmal mehr wird der Besucher förmlich dazu provoziert, sich seiner Art zu sitzen und zu liegen bewusst zu werden.

Wenn ein Stuhl eine Skulptur ist, warum sollte man sich dann auf ihn setzen?

Im Raum nebenan interagiert Sebastian Stumpf dann direkt mit dem Daybed und mit Mies’ Barcelona Chair. Eine Schwarz-Weiß-Fotoserie zeigt ihn im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin und in anderen Bundestagsbauten. Mit einer Hand auf dem Daybed oder auf dem Sessel postiert oder schwebend in der Luft, in liegender und sitzender Haltung. Wenn ein Stuhl eine Skulptur ist, warum sollte man sich dann auf ihn setzen?

In der dritten hier präsentierten Arbeit von Stumpf, einer Videoprojektion, nähert sich der Künstler dem Ausstellungsgebäude selbst. In extremen Nahaufnahmen hat er Insekten im Mies van der Rohe Haus gefilmt. Kleinste Oberflächendetails werden sichtbar, wie die Risse und Knubbel der Wandfarbe. Sitzen, liegen – Insekten können das nicht. „,Sitzen‘ sagen wir, wenn sie in eine Art Starre oder einen bewegungslosen Ruhezustand verfallen, ,liegen‘ eigentlich nur, wenn sie tot sind“, meint Stumpf.

Das ganze Jahr über hat sich das Mies van der Rohe Haus in Ausstellungen und Veranstaltungen mit dem Thema beschäftigt. Vier Symposien wurden gehalten, vier Doppelausstellungen gezeigt, jeweils mit Mies-Möbeln und zeitgenössischer Kunst. Die aktuelle Schau läuft noch zwei Wochen. Die 22 Symposiums-Beiträge wurden gemeinsam mit drei Bildessays in einem Buch zusammengefasst. Dessen Vielfalt beweist, aus wie vielen Blickwinkeln und in wie vielen Facetten das alltägliche Thema Sitzen betrachtet werden kann. Hajo Eickhoff stellt philosophische Überlegungen an, Marie Luise Birkholz unterzieht das Konzept für den Alexanderplatz einer scharfen Analyse und moniert, dass sich am wichtigsten Verkehrsknotenpunkt von Berlin kaum Sitzplätze ergeben haben. Vielleicht fehlen ja auch nur ein paar Skulpturen, auf denen es sich ganz bewusst verweilen lässt.

„Ludwig Mies van der Rohe/Sitz- und Liegemöbel“ und „Sebastian Stumpf. STILL“: Mies van der Rohe Haus, Oberseestraße 60, 13053 Berlin. Bis 16.12.. Das Buch „Mies – Sitzen und Liegen“ erscheint im Verlag Form + Zweck (328 S., 25€). Infos: www.miesvanderrohehaus.de

Jonas Zerweck

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