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Bis hinter den Horizont und noch viel weiter. Ein Treck von Flüchtlingen im Niemandsland.

© imago images / Panthermedia

Urangst Flucht: Jeder kann der Nächste sein

Weggehen, Ankommen, Weiterleben, Erinnern: Andreas Kossert erzählt eine Menschheitsgeschichte der Flucht.

Von einem Moment auf den anderen gilt das alles nicht mehr: Besitzrechte, Immobilieneigentum, Testamente, Sparbücher. Alles Verbürgte bricht weg. Zu den größten Erschütterungen der Flucht gehört es aber, dass Kinder ihre Eltern völlig machtlos und gedemütigt erleben. Nicht selten müssen sie mitansehen, wie ihre Mütter vergewaltigt werden.

Das Grauen der Ohnmacht drückt ein Bootsflüchtling aus Syrien mit diesen Worten aus: „Das Schlimmste ist nicht, dass deine Kinder schreiend auf dem Boden des Schlauchboots liegen. Das Schlimmste ist, dass du zum ersten Mal in deinem Leben deinen Kindern die Angst nicht nehmen kannst. Du schreist mit.“

Solche Zeugnisse sammelt Andreas Kossert zu Hunderten in seiner „Menschheitsgeschichte“ der Flucht. Der 1970 geborene Historiker ist seit Langem ein ausgewiesener Experte für das Thema. Zum Standardwerk wurde sein vor zwölf Jahren erschienenes Buch „Kalte Heimat“ über die schwierige Integration von 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkriegs. Statt Willkommenskultur erfuhren sie vielfach Ausgrenzung und Diskriminierung.

[Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler Verlag, München 2020. 432 Seiten, 25 €.]

In seinem neuen Buch weitet Kossert nun die Perspektive aus. Einleitend befasst er sich mit der Entwicklung des Flüchtlingsbegriffs. Die neue, gut gemeinte Wortbildung „Geflüchtete“ hält er für verunglückt: Es klingt nicht nur umständlich, sondern vermittelt durch die grammatische Form des Partizips auch den Eindruck, der Vorgang der Flucht wäre abgeschlossen.

Flucht endet nie

Flucht ist jedoch nie eine „vollendete Tatsache“, sie findet keinen Abschluss mit der Ankunft in einem anderen Land und oft auch nicht mit einer äußerlich gelungenen Integration. Treffend findet der Autor dagegen den polnischen Begriff „Wyganie“ (Verjagung), der das Gewaltsame der Migration ausdrückt.

Zunächst skizziert Kossert die „endlose Geschichte der Flucht“ von den biblischen Zeiten bis in die jüngste Gegenwart. Manches ist inzwischen weitgehend aus dem historischen Gedächtnis verschwunden, etwa die Vertreibung der Tscherkessen aus dem russifizierten Kaukasus im 19. Jahrhundert; eineinhalb Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Unter den Deutschen hatten das meiste Vertreibungsunglück die Siedler in östlichen Gebieten wie Wolhynien.

Im Ersten Weltkrieg wurde sie als vermeintliche Spione unter großen Opfern ins Innere Russlands deportiert; zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden sie zur menschlichen Verschiebemasse der nationalsozialistischen „Heim ins Reich“- Zwangsumsiedlungen ins annektierte Westpolen („Warthegau“), von wo sie Anfang 1945 wieder überstürzt vor der Roten Armee fliehen mussten.

Natürlich kann auch dieses Panorama des Schreckens nur Ausschnitte bieten, was schon daran zu erkennen ist, dass Kossert sich weitgehend auf Europa und den Nahen Osten fokussiert. Die geballte Dichte der Ausführungen hinterlässt dennoch starken Eindruck. So viel Flucht, so viel Elend; vor allem Mittel- und Osteuropa war lange Zeit ein Schauplatz permanenter Vertreibungen. Polen etwa flohen sowohl vor der Wehrmacht als auch vor der Roten Armee und vor ukrainischen „Nachbarn“.

Wenn man glaubte, Flucht sei eine Ausnahmesituation, wird man hier eines Schlimmeren belehrt. Wer ein ganzes Leben unbedrängt an einem Ort verbringen darf, gehört zu den Bevorzugten. „Jeder kann morgen Flüchtling sein“, lautet Kosserts Resümee.

Umsiedlung als Mittel der Politik

Dass sich im 20. Jahrhundert die Fluchtkatastrophen häuften, hängt mit der Konjunktur des Nationalismus zusammen. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall hybrider multiethnischer Staatsgebilde wie dem Osmanischen Reich verschärften sich die Ausgrenzungen, Verfolgungen und Vertreibungen im Zeichen der „ethnischen Homogenität“. Umsiedlungen, Deportationen und der verordnete Bevölkerungsaustausch wurden zu gängigen Mitteln der Politik.

Besonders hart traf es die Pontosgriechen Kleinasiens, die seit 1919 Opfer von Verfolgungen und Massakern wurden und die neu gegründete Türkei nach der Niederlage im griechisch-türkischen Krieg von 1922 fluchtartig verlassen mussten. Und es geschah etwas, das sich in vielen Ländern so oder ähnlich immer wiederholte: Die Westgriechen auf der anderen Seite der Ägäis empfingen die Flüchtlinge mit Verachtung.

Sie wurden als „Orientalen“ und „Türkensperma“ geschmäht, so wie die Westdeutschen 1945 die Vertriebenen aus dem Osten als „Sudetengesindel“ und „Polacken“ beschimpften. Die Westpolen wiederum stempelten ihre umgesiedelten Landsleute aus jenen östlichen Gebieten, die sich 1945 die Sowjetunion einverleibte, als „Mongolen“ und „Russkis“ ab.

Mit seinem Gang durch die Geschichte schafft Kossert die Voraussetzung für den dritten und längsten Teil des Buches. Er entwickelt hier eine erzählende Collage, die mit großer Eindringlichkeit Grunderfahrungen der Flucht vermittelt: „Weggehen“, „Ankommen“, „Weiterleben“, „Erinnern“ lauten die Leitmotive. Indem Kossert Fluchterlebnisberichte unterschiedlicher Zeiten und Orte nebeneinanderstellt, wird das Ähnliche, Immergültige, Typische deutlich.

Hierdurch – und weniger durch chronologisch-historische Vollständigkeit – legitimiert sich der Begriff der „Menschheitsgeschichte“. Zu loben ist deshalb nicht nur die gründliche Recherche des Autors, sondern auch seine Darstellungsleistung. Nicht zufällig zieht er eine Quelle heran, der die Historiker sonst eher mit Vorsicht begegnen: die Weltliteratur.

Bedrohung Massenflucht

Flüchtlingsschicksale bewegen die Menschen, weil sie an die Urangst rühren, selbst alles zu verlieren. Flüchtlinge können deshalb mit Mitgefühl rechnen, aber nur, solange ihre Zahl überschaubar bleibt. Ab einer gewissen Größenordnung werden sie zu einer Masse und einer Macht, die auf viele bedrohlich wirkt.

Es lässt sich auch nicht bestreiten, dass große Flucht- und Migrationsbewegungen für die Aufnahmegesellschaft eine hohe Belastung sind und im extremen Fall deren Niedergang bedeuten können. Die Kulturen der indigenen Völker Nordamerikas etwa fielen den Zuwanderern aus Europa zum Opfer, die ja ebenfalls zu nicht geringem Teil Flüchtlinge waren.

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Solche Aspekte spart Kossert aus. Er will die Empathie mit Flüchtlingen stärken. Dass man allein auf der Basis von Empathie keine Politik machen sollte, weiß er natürlich auch. Etwas kleinlaut gesteht er gegen Ende des Buches ein, dass man „wirkliche“ Flüchtlinge von den Migranten aus weniger existenzbedrohlichen Gründen unterscheiden müsse. Es müsse „klare Regeln für Flüchtlinge“ geben.

Gerade weil dieses Buch eine große Klage führt über die Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen, erscheint im Kontrast die Willkommenseuphorie des Jahres 2015 umso mehr als weltgeschichtliches Novum. Sind wir denn in wenigen Jahrzehnten, mit Goethe gesagt, so verteufelt human geworden? Oder liegt der Identifikation mit den Flüchtlingen nicht wiederum ein innerdeutsches Abgrenzungsbedürfnis zugrunde, das mit den scheinbar überwundenen Affekten mehr gemeinsam hat, als man wahrhaben möchte? Schwierige Frage, auf die dieses herausragende, nicht nur die Empathie, sondern auch die Erkenntnis fördernde Buch keine Antwort geben muss.

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