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Der französische Jahrhundertschriftsteller Marcel Proust, 1871 - 1922

© imago/Leemage

Unveröffentlichte Manuskripte von Marcel Proust: Blätter, die die Zeit bedeuten

Verschollen, nun wiedergefunden: Gallimard veröffentlicht Marcel Prousts 75 Blätter. Sie sind die Blaupause für die "Suche nach der verlorenen Zeit".

Dieses Jahr ist bekanntermaßen ein Marcel-Proust-Jubiläumsjahr, weil sich der Geburtstag des großen französischen Schriftstellers zum 150. Mal jährt. Wie es der Zufall wollte, sind vor zwei Jahren bis dato noch unveröffentlichte frühe, aus dem „Freuden-und-Tage“-Umkreis stammende Prosaarbeiten von Proust aufgetaucht, (die im Sommer passend zum Jubiläum auf Deutsch unter dem Titel „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ erscheinen), und zwar fanden diese sich in den Hinterlassenschaften des 2018 verstorbenen Verlegers Bernard de Fallois.

Dieser hatte Mitte der fünfziger Jahre unter anderem Prousts Romanessay „Gegen Saint-Beute“ erstmals veröffentlicht. Doch damit nicht genug der passenden Zufälle: Jetzt hat der Pariser Gallimard Verlag auf seiner Website verkündet, Mitte März eine weitere, ewig verschollen gebliebene Proust-Trouvaille zu veröffentlichen, „Les Soixante-quinze feuillets“, die 75 berühmten Blätter.

1908 bekannte Proust, mit einer "langen Arbeit" beginnen zu wollen

Als „coup de tonnerre“ bezeichnet der Verlag diese vermutlich ebenfalls im Nachlass von Fallois gemachte Entdeckung, als „Donnerschlag“. Das gehört sich aus Gründen des Marketings so; und natürlich dürfte dieser Donner primär, wenn nicht gar ausschließlich in der Proustologie laut und stark nachhallen.

So wie Marcel Proust arbeitete, wie er in Skizzenbücher, Notizhefte und auf klein- und großformatige Blätter schrieb, parallel, alles Geschriebene aufeinander beziehend, von immer neuen Einfällen getrieben, stetig neue, sich überschneidende Fassungen entwerfend, so ist es für die Forschung seit jeher schwer, die vielen Schreibknäuel zu entwirren und insbesondere die „Ur-Recherche“ ihrer Chronologie nach freizulegen.

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Die 75 Blätter, die aus dem Jahr 1908 stammen, sind eine der „Recherche“-Blaupausen, wenn nicht gar die ultimative. Bernhard de Fallois schrieb 1954 in seiner „Gegen Saint-Beuve“-Ausgabe, dass Proust auf diesen Blättern „von sehr großem Format“ sechs Episoden skizziert habe, die alle Einlass in die „Suche nach der verlorenen Zeit“ fanden: „die Beschreibung von Venedig, der Aufenthalt in Balbec, die Begegnung mit den jungen Mädchen, das Zubettgehen in Combray, die Dichtung über die Namen und die beiden Richtungen.“

1908 bekannte Proust in einem Brief an Madame Straus, die ihm zu Neujahr fünf elegante, schmale Notizhefte geschenkt hatte, dass er mit einer „langen, wichtigen Arbeit“ beginnen wolle. Es ist das Jahr, in dem Proust genug von seinen Pastiches hat, den Nachahmungen des Stils und der Form von Autoren, die er bewunderte, von ihm selbst als „Literaturkritik in Aktion“ bezeichnet.

Es ist das Jahr, in dem er in einem anderen seiner unzähligen Briefe gleich neun Studien und Essays erwähnt, die er in Arbeit hat, unter anderem über den Adel, Paris, Kirchenfenster, Gräber, Saint-Beuve und Flaubert; und es ist das Jahr, in dem er sich dann intensiv an den Saint-Beuve-Essay setzt.

Prousts Bruder Robert wird in der "Recherche" nicht mehr auftauchen

Fallois hatte aus diesen 75 Blättern, die so lange unauffindbar waren (und die er selbst verbummelt hat?), zwei Auszüge in "seinen" Sainte-Beuve mit hineingenommen: „Robert und das Zicklein“ und „Die normannischen Hortensien“. Auf Deutsch sind die Stücke in der von Luzius Keller herausgegebenen Frankfurter Proust-Ausgabe in dem Supplementband „Nachgelassenes und Wiedergefundenes“ zu lesen.

Die Motive und Themen etwa der Zicklein-Szene finden sich, wie das allermeiste aus den 75 Blättern und den erzählenden Passagen des „Saint-Beuve“, in Prousts Hauptwerk wieder: Der Abschied Roberts von dem Zicklein gleicht dem des kleinen Marcels in „Combray“, der sich dort vom Weißdorn verabschiedet (der Bruder allerdings wird in der „Recherche“ nicht auftauchen). Und der Abschied von der Mutter findet sich zu Beginn des zweiten Teils von „Im Schatten junger Mädchenblüte“. Auch hier verlässt die Mutter ihren Sohn. Die letzten Zeilen der Zicklein-Episode lauten: „Der Zug fuhr ab, ich blieb stehen, doch mir war zumute, als führe etwas von mir mit fort.“
Ja, und wie feiert Gallimard diese erneute Proust-Veröffentlichung? Als „essentielles Puzzleteil“ bei der Entstehung der „Recherche“, als Schlüssel für die „Proustsche Krypta“. Und das zum 150., was für ein schönes Timing.

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