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Kultur: Toter Gaul mit kühnen Reitern

Schluss mit postmodernen Erzählmanövern: Mit seinem Campusroman „Die Liebeshandlung“ will Jeffrey Eugenides endlich wieder hohe Literatur und Unterhaltung versöhnen

Von Gregor Dotzauer

Der Leser, wissen selbst Autoren, die sich nicht ausdrücklich der Befriedigung seiner Bedürfnisse verschrieben haben, ist ein schutzbedürftiges Wesen. Vielleicht sehnt er sich nicht unbedingt zurück zu Väterchen Balzac und Onkel Fontane, aber er hat schnell die Nase voll von unzuverlässigen Erzählern, von im Nebel ihrer Erinnerungen stochernden körperlosen Stimmen und Splittern, die sich nicht zu einem geschlossenen Bild fügen. Er will an die Hand genommen werden und sicherer durch das Labyrinth menschlicher Schicksale geleitet werden, als er durch das eigene Leben irrt, wo immer ein Minotaurus lauert.

Der Nouveau Roman, erklärte Alain Robbe-Grillet, der ihn klarer und klüger als jeder andere Schriftsteller seiner Generation verteidigt hat, braucht daher auch neue Leser. Doch in dem Maß, in dem dieser Leser mit seiner Subjektivität aus dem Zentrum des Erzählens entrückt und in eine Welt der Dinge ausgegliedert wurde, stieg seine Wehmut: Niemand will eine Marginalie in anonymen Strukturen sein. Das erkannten auch die Schriftsteller, die in der Lage waren, die illusionistische Begrenztheit des realistischen Romans argumentativ nachzuvollziehen.

So war Jonathan Franzen schon mit den „Korrekturen“ angetreten, das, was er für intellektuelle Auswüchse des postmodernen Romans hielt, auf ein emotional nachvollziehbares Maß zurückzuführen. Dessen amerikanische Heroen William Gaddis, Robert Coover, John Barth oder Thomas Pynchon galten ihm zwar als wichtige Anreger, aber sie hatten für seine Begriffe den Bogen überspannt. Und er war nicht der Einzige, der Anfang der achtziger Jahre mit ihnen zu fremdeln begann. Zu dem lockeren Kreis, der sich in New York zusammenfand, gehörten auch Rick Moody, David Means und David Foster Wallace, der die experimentelle Tradition noch am ehesten strapazierte. Und ein junger Mann, der gerade seinen Abschluss an der Brown University gemacht hatte und davon träumte, Romane zu schreiben: Jeffrey Eugenides.

Zweimal ist ihm das mit Bravour und in unterschiedlichen Tonlagen gelungen. Sein Debüt „Die Selbstmord-Schwestern“ (1993) war das bittere Resümee einer Vorstadtjugend in den siebziger Jahren, „Middlesex“ (2002), für den er einen Pulitzerpreis gewann, eine epische Odyssee zwischen den Kontinenten und Geschlechtern. Der Protagonist Cal entpuppte sich als Hermaphrodit. „Die Liebeshandlung“ (The Marriage Plot) versucht nun in einem opulenten Campusroman, den geistesgeschichtlichen Stier, der sich Anfang der achtziger Jahre in Gestalt des Poststrukturalismus erhob und wider jedes geordnete Erzählen tobte, bei den Hörnern zu packen.

Eugenides konfrontiert das Entgleiten alles identifizierbaren Sinns, wie es von Theorie-Gurus auch an der Brown University gelehrt wurde, mit dem Anspruch, die Kunst des Unterhaltungsromans zu rehabilitieren: „Unterhaltungsliteratur oder Wie reitet man einen toten Gaul?“, lautet eines der Themen, das Michael Zipperstein in seinem Seminar „Semiotik 211“ vorschlägt. Und so wird die Zerrissenheit der aus wohlhabendem Hause stammenden Literaturstudentin Madeleine zwischen ihrem manisch-depressiven Kommilitonen Leonard Bankhead und dem Religionswissenschaftler Mitchell Grammaticus doppelt gespiegelt. Einerseits in den von ihr geliebten, schicksalssatten viktorianischen Romanen, andererseits im kühlen Diskurs, den Roland Barthes in seinen „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ untersuchte.

„Wenn man seinen Kopf gebrauchte“, denkt Madeleine, „wenn man sich bewusst machte, wie Liebe kulturell konstruiert war, und man begann, die eigenen Symptome als rein mentale zu begreifen, wenn man anerkannte, dass ,Verliebtsein’ bloß eine Idee war, dann konnte man sich von dieser Tyrannei befreien.“ Die Frage, die Eugenides stellt, lautet also: Gehört mir persönlich das, was ich erlebe, oder gehorcht es einem übersubjektiven Regelwerk? Die Crux dieser Alternative ist nicht nur ihr falscher Entscheidungscharakter, sondern auch die Tatsache, dass nicht einmal Eugenides’ Kronzeuge Barthes annahm, er könne sein Gefühlsleben analytisch entsorgen. Die „Fragmente“ leben von einer introspektiv geprägten Mischung von Theorie und Narration, die ihr Material obendrein wesentlich aus einer Lektüre von Goethes „Werther“ gewinnt. Sie sind, allen dekonstruktivistischen Fliehkräften zum Trotz, ein klassischer Fall von Hermeneutik: Hier will sich jemand besser verstehen.

Die große Enttäuschung der „Liebeshandlung“ besteht indes darin, dass sich Eugenides das Recht zum unterhaltenden Spaß selbst verdirbt, den er dem Anspruch dieses Romans zu entreißen versucht. Denn er beginnt als Versuchsanordnung und verläppert schon nach dem ersten Viertel seiner gut 600 Seiten als historischer Roman. Auch der liest sich noch hübsch und muss jeden, der in den achtziger Jahren auch hierzulande Talking Heads hörte, in Tarkowski-Filme ging und sich mit Derridas „Grammatologie“ herumschlug, sentimental stimmen. Doch es ist für die literarischen Grundprobleme, denen sich dieses Buch stellt, dann doch zu wenig. Die am Beispiel von Peter Handkes autobiografischer Erzählung „Wunschloses Unglück“ in Zippersteins Seminar erörterte Behauptung, dass es keine sprachliche Figur sein könne, „wenn deine Mutter sich umbringt“, wird mit der Bemerkung quittiert: „Handkes wirkliche Mutter hat sich umgebracht. Sie ist in einer wirklichen Welt gestorben, und Handke hat wirklichen Kummer oder was auch immer empfunden. Aber darum geht es nicht in diesem Buch. In Büchern geht es nicht ums wirkliche Leben. Bücher sind Bücher über andere Bücher.“ Der Funke, den Eugenides daraus schlägt, bringt allerdings nur ein konventionell allwissendes, ins Personale changierendes Erzählen zum Funkeln.

„Die Liebeshandlung“ ist saftig in der Beschreibung von Sex, mehr als dürftig in der Wahrnehmung fremder Städte wie Paris und Kalkutta, durch die man Mitchell begleitet, heruntergebürstet auf straffe kurze Sätze, angereichert mit ein wenig satirischer Bosheit und vielen komischen Effekten, sogar einfühlsam und menschenklug. Das Ergebnis der Metafiktionalität, mit der Eugenides spielt, indem er sich augenzwinkernd auf die englischen Romangranden oder Ludwig Bemelmans’ Kinderbuch „Madeline“ bezieht, ist jedoch bestenfalls ein sanft modernisierter psychologischer Realismus zweiter Ordnung: Natürlich misst jeder Mensch das, was ihm zustößt, seit jeher an dem, was er von anderen erfahren hat.

Darin ist Eugenides souverän, kostet aber auch das allzu billige Vergnügen aus, mit handgeschriebenen Briefen, langen Postwegen und verzögerten Lesezeiten Verwicklungen zu erzeugen, ohne sich etwa darauf einzulassen, dass Jacques Derrida in seinem Buch „Die Postkarte“ das Verhältnis von Absender und Adressat auf den Kopf stellte.

So gelten die stärksten Seiten Leonards Abrutschen in die manische Depression, geboren aus einer Innensicht, zu deren Beschreibung, wenn auch nicht Heilung, Schriftsteller immer noch eher aufgerufen sind als Ärzte. „Eine Zeitlang turtelte die – damals noch namenlose Krankheit – mit ihm. Sie sagte: Komm näher. Sie schmeichelte Leonard damit, dass er mehr als die meisten Menschen fühle, empfindsamer, tiefgründiger sei.“

Der Grundirrtum der „Liebeshandlung“ besteht aber wohl darin, dass er einen Stier zu packen meint, den man eben nicht erst seit den achtziger Jahren, sondern seit Jahrhunderten kennt. Die Wahrheit eines Textes, wusste schon Alain Robbe-Grillet, hat es nie gegeben. Was das umgekehrt für den Gaul der Unterhaltungsliteratur bedeutet, ist auch klar. Man kann ihn noch hundert Mal erschießen. Seine Reiter aber werden noch bis ans Ende aller Tage unerschrocken durch die Gegend galoppieren.

Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung. Roman. Aus d. Amerikanischen von Uli Aumüller u. Grete Osterwald. Rowohlt, Reinbek 2011. 620 S., 24,95 €. – Der Autor liest heute, Donnerstag, im Literaturhaus Hamburg, morgen, Freitag, im Berliner Verlag (Karl-Liebknecht-Str. 29), jeweils 20 Uhr.

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