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Tim Parks

© Verlag Antje Kunstmann/Volker Hinz

Tim Parks’ Roman „Hotel Milano“: Corona und die Folgen

Der britische Schriftsteller, der seit vierzig Jahren in Italien lebt, hat einen Roman über die Pandemie geschrieben, vielleicht mit etwas zu wenig Abstand.

Frank Marriot ist ein Typ, der sich in seiner komfortablen Blase gut eingerichtet hat. Früher hat er als Journalist polemische Artikel für eine renommierte amerikanische Zeitschrift geschrieben, jetzt ist der wohlhabende 75-Jährige in Rente. Seine zweite Frau Rachel, die viel jünger war als er, ist vor Jahren gestorben.

Er macht lange Spaziergänge durch London, beobachtet die Leute um sich herum, nimmt am Leben nicht wirklich teil – ein typischer Flaneur im Sinne von Charles Baudelaire. Jemand, der sich selbst als Snob bezeichnet und die Nachrichten höchstens sporadisch verfolgt. Lediglich der Sohn aus seiner ersten Ehe und seine Enkelin geben ihm ein wenig Bodenhaftung. Aber dann kommt Corona – und alles ist anders.

Tim Parks’ neues Buch „Hotel Milano“ setzt am 6. März 2020 ein, zu Beginn der Pandemie. Ein Corona-Roman, geschrieben aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur, der ein doppeltes Spiel treibt: Frank Marriot, dessen zurückgezogenes Leben einem selbst auferlegten Lockdown gleicht, wird vom allgemeinen Lockdown eingeholt. Ein Einzelgänger, der in Isolationshaft gerät. Und der dann plötzlich, für ihn selbst überraschend, zum Retter wird.

Es ist ein Anruf, der sein Leben verändert: Der Herausgeber der Zeitschrift, für die Frank einst gearbeitet hat, Dan Sandow, ist gestorben und soll in Mailand beigesetzt werden. Frank wird eingeladen, an der Beerdigung teilzunehmen. Trotz seines Alters und der Corona-Warnungen seines Sohnes tritt er die Reise an und steigt in Mailand in einem Fünf-Sterne-Hotel ab.

Nach der Beerdigung schnappt die Falle zu: Der Lockdown wird verhängt, Frank sitzt fest im goldenen Käfig, der Luxus wird plötzlich schal, das Personal ist nicht mehr höflich-devot, sondern führt ein strenges Regiment. Frank, durch eine Knieverletzung zusätzlich gehandicapt, taucht ab in eine resignierte Lethargie. Erst als er eines Nachts über sich dumpfe Schläge hört, wird er aus seinem Gleichmut gerissen.

Auf dem Dachboden entdeckt er eine Immigrantenfamilie, die sich dort illegal einquartiert hat. Kurz entschlossen versorgt er die Familie mit Lebensmitteln und nimmt sie schließlich in seinem Zimmer auf – auch den älteren Vater, der schwer krank ist, vermutlich durch Corona infiziert. Frank selbst, von der allgemeinen Hysterie genervt, wird zum Verweigerer: Er setzt nur dann die Maske auf, wenn er unbedingt muss.

„Hotel Milano“ handelt davon, Verantwortung zu übernehmen, ein gesellschaftliches Commitment einzugehen. „Die Welt verändert sich, Frank, und du musst dich mit ihr verändern.“ Frank Marriot meint, die Stimme seines toten Verlegers Dan Sandow zu hören, der ihm diesen Satz um die Ohren haut. Wie kann man sich einfach aus dem Leben stehlen, wenn die Welt aus den Fugen gerät? So tauscht der Ex-Journalist, der den Kummer über den Tod seiner zweiten Frau noch nicht ganz überwunden hat, das passive Sich-treiben-lassen gegen die Aktion.

Tim Parks’ Roman zerfällt in zwei Teile. Während das Buch in der ersten Hälfte weitgehend im Leerlauf dreht, zieht das Tempo in der zweiten Hälfte deutlich an. Die unausgewogene Dramaturgie stört auch deshalb, weil das Thema des Romans – der Paria, der moralisch reift und ins Handeln kommt – nicht neu ist.

Zu allem Überfluss versteigt sich der Autor dann noch in eine melodramatische Schlussszene: Frank, jetzt selbst erkrankt, liegt fiebernd im Bett. Neben ihm sitzt ein anderer Hotelgast, eine von ihm bewunderte attraktive Italienerin, die um ihren im Koma liegenden Vater trauert. Krankheit und Tod, Anziehung und Schönheit – das volle Programm Drama und Emotion mit allzu konventionellen Ingredienzen.

Der Autor, 1954 in Manchester geboren und vielfach ausgezeichnet, lebt seit über 40 Jahren in Italien. Er hat mehrere wirklich gute Bücher geschrieben, etwa den Roman „Stille“ oder die Reise-Reportage „Italien in vollen Zügen“. Auch „Hotel Milano“ hat einige Stärken, etwa wenn Parks beklemmend eindringlich beschreibt, wie eine lebendige Großstadt plötzlich zur Geisterstadt wird, die Politik in fast alle Lebensbereiche ihrer Bewohner eingreift, wie der Kampf gegen einen unsichtbaren Feind Menschen hysterisch macht.

Doch das Setting einer plötzlich über die Menschheit hereinbrechenden Katastrophe macht noch kein gutes Buch. Der große Corona-Roman muss wohl erst noch geschrieben werden. Vielleicht braucht es dafür mehr Abstand, und Tim Parks hat einfach nicht lange genug gewartet.

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